Süßer Duft von wilden Jasmin vermischte sich mit der feuchten, warmen Morgenluft und strömte lieblich in meine Nase. Dicke, klare Wassertropfen verzierten die mannigfaltigen Blätter und frisches, knackiges Grün in allerlei Farbvariationen und Formen ergänzten sich mit dem Rostrot der matschigen, fruchtbaren Erde.
Ich war wieder in der Wildnis, wieder zu Fuß, aber diesmal war alles anders. Statt trockener, staubiger, irgendwie toter Landschaft und ausgedörrten Gräsern oder Büschen, statt verbrannter, schwarzer Erde war ich nun umgeben von grünem, frischem Leben. Es war mittlerweile Frühling in Südafrika und der viele Regen der letzten Wochen hat das Land regelrecht wach geküsst. Im atemberaubenden Tempo waren die Blätter an den Büschen ausgeschlagen und aus dem vermeintlichem “Nichts” verzierten nun überall die buntesten Blumen die Bäume und Büsche, trällerten die heimkehrenden Vögel ihre Lieder in den Tälern. Doch nicht nur die Landschaft war anders als zuvor, auch meine Begleitung und die Qualität der Begegnung war eine ganz andere Liga.

“Willkommen zuhause” waren die ersten Worte von Nunu, unserem Guide, heute am frühen Morgen gewesen. Nunu Jobe war eine Legende unter den Trails Guides und bekannt als der “Barefoot Rhino Whisperer“.
Angefangen in jungen Jahren als “Meat-Poacher”, ein Wilderer, der das Wild zum verspeisen jagte, hatte er einen krassen Kurswechsel hingelegt und war auf die andere Seite gewechselt: Als Nature Guide versuchte er nun, den Menschen die Wichtigkeit der Natur näher zu bringen, ein Verständnis zu schaffen und die Natur so zu beschützen. Seine Erfahrung im Busch war phänomenal und manche sagten ihm nach, dass er in der Lage sei, sich mit den Tieren zu unterhalten – oder sagen wir mal, mit ihnen zu kommunizieren.
Das finde ich an sich schon bemerkenswert, doch was ihn wirklich zu einer kleinen Berühmtheit gemacht hatte, war die Tatsache, dass er ausschließlich barfuß unterwegs ist. Im Auto, in der Stadt und im Busch. Seine Füße hatten sich angepasst und eine derartige “Sohle” entwickelt, dass kaum eine Dorne ihm noch etwas anhaben konnte. “Die Leute denken oft, ich bin arm und manche bieten mir dann sogar Schuhe an. Bin ich aber nicht” lachte Nunu und verdeutlichte dadurch die Eingeschränkte Sichtweise der modernen Menschen.
Für viele ist es unbegreiflich, warum jemand freiwillig auf Schuhe verzichtet, dabei haben wir als Spezies so tausende, ja Millionen von Jahren überlebt. “Arm” war Nunu womöglich früher mal gewesen, war es nun aber sicher nicht mehr. Er hat “es” geschafft und sich, aufgrund seiner eigenen Leistung und Engagement, aus den einfachen Verhältnissen befreit. Nun war er ein Geschäftsmann und hatte, neben seiner Firma, die sich auf immersive, mehrtägige Touren durch die Wildnis spezialisiert hatte, einen der wenigen Campingplätze direkt an dem großen, alten Hluhluwe-iMfolozi Game Reserve. Zudem war er für einige fünf-Sterne Lodges als Trails Guide aktiv. Doch sein Herz lag bei der Community und er sah seine Aufgabe auch darin, der lokalen Bevölkerung den Kontakt mit der “Wildnis”, dem Busch zu ermöglichen.
Behutsam setzte ich meinen Fuß neben den Fußabdruck von Nunu auf den glitschigen Matschhügel und konzentriere mich darauf, nicht wegzurutschen, während Nunu bereits auf der Anhöhe stand und mir hilfsbereit seinen Wanderstock als Aufstiegshilfe anbot. Meine Hose, meine Schuhe und meine Socken waren komplett nass und wild gespickt mit braun-schwarzen und roten Flecken, während sich unter meiner Schuhsohle eine weitere Sohle aus Matsch gebildet hatte. Ich ergriff den Wanderstock und erblicke Nunus Füße – fast sauber und ohne Matsch. “Erstaunlich, scheint irgendwie einfacher zu sein” dachte ich, während ich auf die Anhöhe kletterte und mein Knie dabei in den feuchten Boden drückte.
Es war eine besondere Stimmung. Graue Wolken verzierten den Himmel und der Regen der vergangenen Nacht hing noch in der Luft, während die Natur langsam aufwachte und ihr Tagesgeschäft begann.
Wir waren eine kleine Gruppe von vier Personen und neben Nunu begleiteten mich nur noch Reni und Tom. Allen gemein war die Liebe und der Respekt vor der Natur, was diese Wanderung für mich auf ein ganz neues Level hob. Achtsam, leise, aufmerksam und mit geschärften Sinnen durchstreiften wir nun bereits seit gut einer Stunde den Busch eines Big Five Reservates, versuchten dabei alle Eindrücke aufzusaugen und für immer zu behalten. Am Horizont sahen wir die Dächer der Game-Drive-Fahrzeuge auf der asphaltierten Straße auf und abfahren, doch hier, mitten im Busch waren nur wir – und die Wildnis der Vögel, Insekten, Pflanzen, Amphibien und Elefanten.
Große Brüder
“Elefant” flüsterte Nunu und deutete behutsam auf einen Hügel hinter einem kleinen Tal, parallel von uns. Noch ganz betört von der wilden Duftkreation des süßen Jasmins und des herben Fever Trees, lies ich meinen Blick über die grünen Hügel schweifen, als auch ich die zwei riesigen Elefantenbullen entdeckte. Gemütlich, bedächtig aber Zielstrebig trotteten die beiden vermeintlichen Brüder am Fuße der Anhöhe und der tiefe Bass des typischen Brummens machte mir wieder mal die schiere Kraft dieser Tiere deutlich. Wir folgten den Tieren einige Zeit parallel, auf der anderen Seite des kleinen, schluchtaritgen Flussbettes, als Nunu eine Idee hatte: “So zielstrebig wie die beiden sind, sind sie bestimmt auf dem Weg zum Wasserloch” flüsterte Nunu und schlug vor, sich ebenfalls dorthin zu begeben und auf die Tiere zu warten.
Als der erste Elefantenbulle mit flatternden Ohren aus dem Dickicht an das Ufer des braunen Wasserlochs trat, wurde uns erst gewahr, wie groß die beiden Bullen wirklich waren. Während der erste Bulle sehr entspannt war und in sich zu ruhen schien, war der zweite Bulle über unsere Anwesenheit nicht sonderlich entzückt.
Aufgeregt trottete er von der einen Seite des Wasserloches auf die andere, bis er eine Stelle gefunden hatte, in der er ohne unserer Sicht Zugang zum braunen Wasser hatte. Sein Bruder, der sich das Schauspiel einige Zeit entspannt angeschaut hatte, übernahm daraufhin die Initiative. Langsam aber bestimmt ging er immer weiter auf uns zu und gab uns behutsam aber deutlich zu verstehen, dass wir so nah am Wasserloch doch nicht willkommen waren. Wir verstanden, standen auf und bewegten uns ebenfalls langsam einige Meter zurück. Der Bulle honorierte unser Zurückweichen mit einer Kopfbewegung, fast ein Kopfnicken gleich, trottete zur Wasserkannte zurück und steckte seinen Rüssel tief in die braune Brühe.
“Elefanten lieben Wasser” hallten mir die Worte von Dylan in mein Ohr, während der mächtige Elefant, offensichtlich verzückt, seinen großen Rüssel ins Wasser platschen lies, diesen mit Wasser befüllt und dann das Wasser wild in alle Himmelsrichtungen versprühte. Nach zwanzig Minuten hat sich der Bulle ausgespielt, nahm einen letzten großen Schluck, drehte sich um und gemeinsam verschwanden die beiden Brüder wieder, gemütlich, tief grummelnd, im Dickicht des nahegelegenen Hügels.
“Wow, das war unglaublich” flüsterte Reni, immer noch ganz berührt und alle hatten ein helles Leuchten in den Augen. “Weiter?” fragte Nunu flüsternd.
Wir nickten.
Die Umgebung ändert sich nun langsam vom grünen Dickicht in eine grüne, fruchtbare, hügelige Graslandschaft, als wir etwas großes, graues in weiter Ferne auf einer planen Grasebene entdeckten. “Nashörner?” fragte Nunu und bat Tom um sein Fernglas.
“Ja! Nashörner!”
Nunu freute sich, war aber zugleich etwas betrübt. “Sie sind zu gut sichtbar aus zu großer Entfernung”, flüsterte er und wir verstanden sehr gut, was er damit meinte. Die Wilderei hier hatte, trotz des De-Hornings, seit kurzem wieder zugenommen und das Ausmachen der Tiere aus so großer Entfernung führte zu ihrer deutlichen Gefährdung. Es war auch eher untypisch, da die Tiere normalerweise gerne das dichte Buschland bevorzugten. “Sie bewegen sich” flüsterte Nunu erleichtert und gab Tom sein Fernglas zurück. “Wollen wir?”
Schildwall
Fast wie römische Soldaten standen die vier massiven, grauen Nashörner aufgereiht vor uns und setzten langsam einen Schritt vor den anderen – in unsere Richtung. Es hatte lange gedauert, bis sie uns entdeckt hatten. Erschreckend lange! Auf offener Fläche, ohne den Schutz von Büschen oder Bäumen, hatten wir uns Schritt für Schritt langsam den Tieren bis auf knapp 30 Meter angenähert, bevor der Wind einsetzte und anfangs nur ein, dann alle Tiere von uns Kenntnis genommen hatten.
Die Sicht der Nashörner ist generell sehr schlecht, der Geruchssinn dagegen sehr gut. Doch der fast stillstehende Wind hatte die Tiere sehr verletzlich, gar “blimd” gemacht. Selbst nach der ersten “Geruchsaufnahme” waren sie nicht wirklich in der Lage, unseren Standort, da wir absolut stillstanden, zu ermitteln. Aufgeregt waren sie von einer Richtung zur anderen gelaufen und hatten versucht, mit erhobenem Haupt die Quelle des fremden Geruches ausfindig zu machen. Nunu hingegen zeigte sich wenig beeindruckt und – im krassen Gegensatz zu allem, was ich bisher gelernt hatte, setzten wir immer wieder einen langsamen Schritt vor den anderen. Bis zu dem Punkt, als eben der Wind einsetzte und unseren Menschengeruch klar und deutlich in die Nasenlöcher der grauen Riesen wehte.
Da standen wir nun also, vis-a-vis mit den offensichtlich “kampfbereiten”, wenig erfreuten Tieren. Doch Nunu war immer noch ganz entspannt. Sein Gewehr demonstrativ passiv über seine Schulter gelegt, beobachtete er die Tiere freundlich und mit wachen Augen. Ich hatte keine Angst und vertraute Nunu. Wenn ein Guide mit seiner Erfahrung kein Zeichen von Nervosität zeigte, dann musste ich mich auch nicht sorgen.
“NO!” Während die, wie Soldaten aufgereihten Tiere Schritt für immer näher gekommen waren und langsam den Abstand soweit verkürzt hatten, dass wir definitiv in Ihrer Komfortzone “eingedrungen” waren, wurde es auch Nunu zu viel. Die sanfte, aber bestimmt ausgesprochene verbale Grenzaufzeigung Nunus erzeugte unvermittelt Wirkung. Wie immer für mich unerwartet agil, vollzogen die Tiere plötzlich einen kleinen Satz und trotteten zügig von dannen.
Ich war beeindruckt. War das gerade wirklich passiert? Ein einfaches “No” hatte gereicht, um die Tiere von einer weiteren Annäherung abzuhalten?! Nunu lächelte gütig, war aber noch nicht zufrieden. Die Tiere hatten sich nämlich nur gut 120 Meter weit entfernt und waren sich nun offensichtlich selbst nicht mehr so sicher, was da gerade passiert war. “Das reicht nicht. Sie müssen zurück ins Unterholz” sagte Nunu, nun nicht mehr flüsternd und deutete uns mit einer einladenden Handbewegung an, erneut zu den Nashörnern zu gehen. Diesmal nicht mehr so leise und unter den nun wachsamen Blicken der Tiere, dafür aber genauso ruhig und entspannt, gingen wir erneut auf die Tiere zu. Als wir nur noch 50 Meter entfernt waren, wiederholte sich das Spiel. Die massiven, gedrungenen Tiere reihten sich abermals zu einer “kampfbereiten” Linie auf und begannen ihrerseits wieder auf uns zuzugehen. Diesmal ließ es Nunu allerdings nicht mehr darauf ankommen und es reichte ein lautes, deutliches, kopfschüttelndes “EH EH”, um die Tiere endgültig davon zu überzeugen, nun das Weite zu suchen.
Wir blickten den dicken Hintern der Dickhäuter hinterher, wie diese in den knackenden Büschen verschwanden und schauten uns dann um. Wir standen genau da, wo die vier Tiere zuvor entspannt gelegen hatten und die Abdrücke der Hautfalten waren noch deutlich im feuchten Matsch zu sehen. Die Aussicht über das Tal war phänomenal. “Kein Wunder, dass die Tiere hier Entspannung gesucht hatten“, dachte ich schmunzelnd. “Normalerweise pusche ich die Tiere nicht so” erklärte uns Nunu die Aktion. „Aber die Wilderei hat wieder sehr stark zugenommen und ich will diese wunderbaren Tiere unbedingt beschützen – denn sie sind Brüder und Schwestern von uns! Sie müssen überleben!”
Willkommen zuhause
Es war mittlerweile 09:00 Uhr und es wurde heiß – und schwül. 29 Grad sollten es heute Nachmittag werden und die Sonnenstrahlen, die sich durch die dichte Wolkendecke kämpfen, gaben einen kleinen Vorgeschmack auf den Nachmittag.
Gut zwanzig Minuten hatten wir auf dem ehemaligen Rastplatz der Nashörner verbracht, um sicher zu gehen, dass diese nicht mehr auf die freie Fläche traten und dabei hatten wir über die Wildnis, die Natur und die Wilderei philosophiert. Nun waren wir wieder unterwegs und durchstreiften die Busch- und Graslandschaft, als ich etwas in mir bemerkte: Ich war weder aufgeregt noch angespannt oder hatte Angst, in diesem potenziell gefährlichen Gebiet, der “Wildnis” zu Fuß unterwegs zu sein. Angst hatte ich auch noch nie zu Fuß im Busch gehabt.
Im Busch zu laufen war so, wie unsere Vorfahren früher gelebt hatten. DAS war ihr Alltag. DAS war normal und auch ich fühlte mich hier einfach genau richtig. Nein, ich fühlte mich plötzlich mehr als “wohl”. Ich war angekommen! Die Landschaft änderte sich gerade von grünem Buschland zu offenem, gelblichem Grasland, als wir auf die Anhöhe eines vermeintlichen Hügels traten und sich ein unglaublicher Blick über ein großes Tal vor uns auftat. Ich hielt inne. Außer uns war kein Mensch unterwegs gewesen. Es gab nur die Pflanzen, die wilden Tiere und tausende Vögel – und uns. Diese Natur, diese Ruhe war somit super exklusiv und erzeugte in mir ein starkes Gefühl von Dankbarkeit.
Ich erinnerte mich an die ersten Worte von Nunu heute Morgen: “Willkommen zuhause”.
Ich atmete tief ein und atmete tief und langsam wieder aus. Die Liebe zur Natur durchströmte meinen Körper. Ich spürte die Verbundenheit zu den Elementen, den Tieren, den Pflanzen. Ja, ich war wirklich “Zuhause”.
