“Sechs Njala female, einmal juvenile und zwei Mal Njala male” rief mir Kevin zu und ich fuhr zügig mit meinen Fingern die Linien der ausgedruckten Tabelle vor mir entlang und machte fleißig drei neue Striche. Eineinhalb Wochen nach meiner ersten Begegnung mit Kevin, vom Wild Tomorrow Fund, saß ich schon wieder in seinem weißen Pickup, doch diesmal transportierten wir keine kleinen Bäumchen in das 1200 Hektar große Reservat, sondern nur uns.
“Game Counts”, also Tierzählung standen auf der Tagesordnung und so “ruckelten” wir nun seit 07:30 Uhr in Schrittgeschwindigkeit die unebenen, groben Wege entlang und zählten und zählten – und zählten.
Tierzählungen sind ein wichtiger Teil des Monitorings und unverzichtbar im Management eines Tierreservates. Durch die ermittelte Anzahl der Tiere entlang einer festgelegten Strecke lässt sich so bestimmen, wie groß die tatsächliche Population in einem Reservat ist. Da die Tiere natürlich umherwandern und nicht alle pünktlich an den Wegen Spalier stehen, kann nur grob geschätzt werden, doch um die Zahl dennoch so exakt wie möglich zu bestimmen, wird das Prinzip des Durchschnitts angewendet: Je mehr Zählungen stattfinden, desto genauer wird der Durchschnitt.
“Erst mindestens acht Zählungen ergeben einen brauchbaren Durchschnitt. Phinda braucht für ihre Zählung sogar drei Monate” erklärte mir Kevin, während er den Wagen durch eine tiefe Pfütze lenkte und dabei seinen Blick aufmerksam von links nach rechts wandern ließ.
“Einmal Impa… ne, warte. Ist nur ein Termitenhügel …”
Eigentlich war es easy. Wie saßen nur im Auto, die Klimaanlage erzeugte eine angenehme Temperatur und das Radio berieselte uns leise mit rhythmischer Popmusik. Es gab keinen weiteren Straßenverkehr und nur etwas unebene Wege. Es hätte also eigentlich ganz entspannt sein können. Tatsächlich war es aber sehr anstrengend. Kevin nahm die Zählung sehr ernst und war bestrebt, wirklich jedes Tier zu zählen und festzuhalten, was auf einer offenen Grasfläche dann ja auch einfach und entspannt sein kann. Im dichter werdenden Gestrüpp ist es aber eine ganz andere Nummer.
Die dünnen Beinchen der schlanken Antilopen verschwanden nämlich im Busch, das Grau der Nyala Bullen hatte dieselbe Farbe wie die Stämme der Sträucher und Bäume und das satte Braun-Orange der Impala und Njala Weibchen war eben leicht mit den gleichfarbigen Termitenhügeln zu verwechseln. Njala-Weibchen und Impala sind zudem Herdentiere und sie neigen daher dazu, in großen Gruppen im Dickicht zu stehen und sich wild durcheinander zu bewegen, sobald etwas Unerwartetes ausgemacht wird. Wie beispielsweise ein weißer Pickup.
Die Zählung erforderte also ständige und höchste Konzentration – und machte müde. “Warum genau ist die Bestandsaufnahme eigentlich so wichtig?” fragte ich Kevin, nachdem ich wieder mal eine Reihe Njala Weibchen gefüllt hatte.
“Na, das hier ist halt nicht die wirkliche Wildnis. Es ist ein eingezäuntes Gebiet, das nur eine bestimmte Anzahl von Tierarten verträgt, bevor das Ökosystem anfängt zu kippen. Zu viele Impala vertilgen zu viel Gras und Büsche. Diese können also nicht nachwachsen und verschwinden im Extremfall. Das Dezimiert auf einer Seite die Vielfalt hier im Reservat, auf der anderen Seite bleibt am Ende nichts mehr zu essen für die Tiere und letztendlich beginnen alle zu leiden. Wenn wir also feststellen, dass wir zu viele Tiere einer bestimmten Art haben, müssen wir beginnen, welche zu entnehmen.“
Entnehmen. Eine Entnahme ist ein professioneller Begriff für das Entfernen der Tiere aus einem Gebiet. Das kann, bei bestimmten, woanders raren Arten, durch eine Umsiedlung passieren. Bei Arten, die aber überall stark vertreten sind, bedeutet dies, in der Regel, dass gekullt wird – also gejagt.
“Es kann aber auch in die andere Richtung gehen” holte mich Kevin wieder aus meinen Gedanken. “Wenn wir zu wenig pflanzenfressende Spezies eines bestimmten Typs haben, dann fehlt der natürliche “Dezimiererer” und bestimmte Arten von Gräsern, Büschen oder Bäumen fangen an, ihrerseits zu wuchern.“


Ich schaute aus dem Fenster, fühlte die warme Luft, lauschte dem Zwitschern der Vögel und begann langsam wieder in Gedanken zu verschwinden. Wir waren nun gut drei Stunden unterwegs, die Liste hatte sich bereits gut gefüllt und ich merkte, wie meine Augen langsam schwer wurden. “Im Endeffekt ist eine Tierzählung auch nichts anderes als eine systematische, private Safari mit einem Auftrag.” Dachte ich, während wir durch einen gelben Fever Tree Wald am Ufer eines, mit Schilf bedeckten Feuchtgebietes hindurch fuhren und ich plötzlich unzählige, runde, fein geflochtene Weaver Nester im Schilf sowie ein Krokodil und eine Gruppe Nilpferde im Wasser entdeckte. “Die ganz normale Realität hier, in Afrika halt” dachte ich schmunzelnd.
gestutzte wildnis
Das Reservat war wunderbar vielfältig und Kevin lenkte den Wagen über offene Grasflächen, dichte Wälder, matschige Sumpflandschaften und dichtes, grünes Buschland. Ich genoss die “exklusive” Ausfahrt, doch Kevin war gerade vom dichten Buschland nicht so begeistert.
“Man sieht hier überhaupt nichts mehr, ich muss hier dringend meine Truppe durchjagen und alles aufklären” grummelte er immer wieder und machte mir so einmal mehr deutlich, dass es hier zwar “der Busch”, aber eben keine Wildnis war, sondern im Endeffekt ein Wildtierpark – ohne Gäste. Ein Wildtierpark, der durch den Menschen gemanagt und betreut werden musste, da dieser sonst, wieder aufgrund des Menschen, ins Ungleichgewicht geraten würde. Schon irgendwie pervers, dachte ich, während Kevin nun den Pickup über die unebenen Wege peitschte und die Stoßdämpfer an ihre Grenzen trieb – während uns unzählige Antilopen mit großen Augen hinter schauten. Doch diese zählten nun nicht mehr, denn die Vormittagszählung war soeben durch Kevin für beendet erklärt worden.
Es war mittlerweile fast 12:00 Uhr und wir hatten in viereinhalb Stunden “nur” 36 Kilometer zurückgelegt, während wir knapp 750 Tiere gezählt und notiert hatten. Nun hatten wir eine Stunde Mittagspause, bevor das ganze Spiel wieder von vorne losging.
“Kaffee, Delisch?” fragte ich, langsam wirklich einen guten Kaffee brauchend.
“Ja, sehr gerne! Gute Idee” antwortete Kevin und lenkte den Wagen von der Dirt Route auf die grob asphaltierte Straße.
“Hast du morgen eigentlich auch Zeit?”
“Ich weiß es noch nicht. Wieder Gamecounts?”
“Ja, ich muss das hinter mich bringen. Wir sind spät dran in diesem Jahr und bald ist alles so zugewuchert, dass man gar keine Tiere mehr sieht.”
der zaungast | patrouille mit field rangern
Als mich zwei Tage später das dritte Mal ein weißer Pickup vom Wild Tomorrow Fund abholte, war es allerdings nicht Kevin, der mich erwartete, sondern seine beiden Field Ranger Seni und Bheki.
“Wir werden erstmal mit einer Patrouillenfahrt beginnen und uns anschließend zu fuß auf Fallen Suche begeben” gab mir Seni, der Head-Ranger, direkt einen kleinen Ausblick für diesen Tag, als ich mich in gequetscht hatte.
Seni war schlank, einen guten Kopf kleiner als ich und schien optisch Ende zwanzig Jahre alt zu sein. Er trug eine olivfarbene Flecktarn-Hose und ein orang-braun-farbenes Langarmshirt aus Kunststoff, ebenfalls in Camouflage Optik. Ich war mal wieder mal über die Temperaturempfindlichkeit der Locals hier überrascht, trug ich doch selbst nur eine kurze Hose und ein kurzes Shirt, da es bereits um 07:00 Uhr 26 Grad warm geworden war.
Seni arbeitete seit fünf Jahren als Ranger und hat zuvor eine richtige einjährige Ausbildung zum „Ranger“ bei einer speziellen Schule gemacht, was ihn so direkt für die Position des Head-Rangers im Wild Tomorrow Fund qualifizierte. Doch dies war bei weitem nicht bei allen Field Rangern so.
“Viele Ranger werden einfach von den Reservaten angestellt und dann quasi „in House“ ausgebildet” gab mir Seni einen kleinen Einblick in die Field Ranger Welt. Seine Ausbildung war dabei eine gute Mischung aus Conservation- und Anti-Poaching-Themen gewesen. Er hatte also sowohl Kenntnisse von Flora und Fauna und Maßnahmen und Methoden zur Erhaltung und Schutz aufgebaut, als auch Fertigkeit im Spurenlesen, Schießen und etwas Taktik erhalten. Dies war aber, laut seiner Beschreibung, bei weitem nicht so extrem gewesen wir es in den sechs Wochen bei “Protrack” sein soll, versichert er mir.
Protrack ist eine spezielle Schule für zukünftige Anti-Wilderer in Südafrika, die einen ganz speziellen Ruf genießt. Besonders hart, aber auch besonders gut. Mehr dazu gib es in einem eigenen Bericht über eine Anti-Wilderer-Einheit.
Senis Kollege Bheki schien Mitte dreißig zu sein, trug ebenfalls lange, uniformartige Kleidung, allerdings in anderen Farben und war eher einer der Stillen. Er war sehr freundlich und zurückhaltend, sprach kaum englisch, hörte allerdings den Gesprächen von Seni und mir aufmerksam und mit wachen Augen zu.
Zu dritt hatten wir uns auf die einzige Sitzbank des Pickups gequetscht und ich hatte mich gerade in die enge Sitzposition zurecht ruckelte, als Seni auch schon mittels Transponder ein großes vergittertes Tor zum Reservat öffnete und den Wagen hinter dem, nun wieder geschlossenen Tor, abstellte.
„Zaun-Überprüfung“ entgegnete Seni auf meinen fragenden Blick und öffnete die Tür.
“Siehst du diesen Pfeil? Das bedeutet, dass in dieser Richtung irgendwo eine Minderung am Zaun ist. Das ist aber noch nicht schlimm, da hier noch genug Spannung drauf ist. Aber wir werden uns das mal ansehen“ erklärte mir Seni, während er mit einem gelben ”Fault Finder” die Spannung des Stromzaunes überprüfte.
Senis und Bhekis Hauptaufgabe war es, den Zustand der Zäune zu kontrollieren. Dabei ging es einerseits um den baulichen Zustand der Pfähle und des Drahtes und andererseits um die Qualität der Elektrifizierung.
“Der Zaun ist die erste Barriere. Wenn dieser intakt ist, macht es das Leben der Wilderer schwerer. Außerdem ist er ein guter Anzeiger. Um auf das Gelände zu kommen, muss man den Zaun überwinden – Das hinterlässt Spuren.“ Erklärt mir Seni und Bekis nickte bekräftigend, während Seni eine weitere Leitung des Zaunes überprüfte.
“Habt ihr hier viele Probleme mit Wilderern?”
“Zurzeit geht es. Es gab aber schon schlimmere Zeiten. Im Juli zum Beispiel haben wir 66 Fallen gefunden, die einen Tag zuvor aufgestellt waren. Das war eine wilde Zeit ein regelrechtes Katz- und Mausspiel. Die Wilderer hatten Aufklärer an einen nahegelegenen Fluss am Zaun gesetzt, die angelten, dabei aber unsere Patrouillen auskundschafteten.”
“Habt ihr auch welche erwischt?”
“Nein. Nur knapp. Aber wir haben ihnen gezeigt, dass wir hier aufpassen und wir haben alle Drahtfallen entfernt”
Nachdem in der, schon heißen Morgensonne alle wichtigen Stellen des Zaunes auf die Funktionsfähigkeit überprüft wurden, quetschten wir uns gerade wieder zu dritt in den Wagen, als die wohltuende kühlende Luft des Gebläses meine leicht feuchte Stirn erreichte. Ich wollte gerade das Gebläse so einstellen, dass mich auch wirklich der volle Luftstrom erreichte, da schaltete Seni die Klimaanlage, Lüftung und Radio aus, öffnete die Fenster und lies wieder einen Schwall warmer Luft ins Fahrzeug strömen.
“Wir patrouillieren mit allen Sinnen, vor allem hören und riechen” erklärte mir Seni die Aktion, startete den Wagen und bog auf einen Weg, der direkt am Zaun entlanglief, ein.
Neben der technischen Überprüfung der Zäune und Stromanlagen musste nun auch die bauliche Qualität mittels Streifenfahrt überprüft werden.
“Die meisten Probleme an den Zäunen machen hier gar nicht die Wilderer sondern die Giraffen“, flüsterte mir Seni zu, als wir gerade an einem Giraffenweibchen und einer Babygiraffe vorbei fuhren.
“Natürlich nicht diese hier. Aber die Giraffenbullen kämpfen oft so rigoros, dass sie in die Stromzäune kommen und diese dabei dann beschädigen.”
Anders als in anderen großen Reservaten, wo die Aufgaben strikter getrennt waren, waren die Aufgaben für die Ranger vom Wild Tomorrow Fund vielseitiger. Neben dem Kontrollieren der Zäune kümmerten sie sich so auch um die Instandsetzung der Zäune und Wege oder führten eben motorisierte Streifen- und Kontrollfahrten durch. Zudem machten sie weitere offene Streifen zu Fuß oder verdeckte, so genannte “hörende” Positionierungen. Das war mir soweit schon bekannt. Neu war mir, dass sie sogar einfache Ermittlungstätigkeiten durchführten.
“Wenn eine Antilope gewildert wurde, schicke ich meine Jungs auch mal in die Communities um zu sehen, wer das was verkauft. Wir haben sogar einige Informanten in den Orten, die uns berichten, falls dort Wild auf der Straße verkauft wird. Manchmal täuschen wir sogar unsererseits eine “zivile” Tätigkeit außerhalb des Zaunes vor, um zu sehen, wer sich da so herumtreibt” erklärte mir Seni, schon ein wenig stolz.
Nach einigen Kilometern am Zaun und vorbei an einigen elektro-geschockten Mistkäfern, brachte Seni den Wagen im Schatten eines Baumes, am Ufer eines großen Flusses zum Stehen, nahm einen großen Schluck aus seiner Wasserflasche und verschloss dann den Wagen. Es stand nun “Snare-Patrol”, also die Absuche des Gebietes nach Drahtfallen auf dem Programm. Dies hatte ich ja bereits einmal im großen Maßstab in Bonamanzi gemacht, war dort aber nur semi erfolgreich gewesen.
“Hier werden wir vermutlich auch nicht viel finden, dafür sind wir zu regelmäßig hier. Aber wir schauen immer mal wieder nach Fallen, die besonders um die Wildtiere Pfade aufgebaut wurden” entmutigt mich Seni auch direkt, während wir nun zu dritt den kleinen Pfaden entlang stapften und wieder Ausschau nach Anzeichen von Drahtfallen hielten.
Es war wieder mal ein ganz anderes Wandern durch die Wildnis. Statt, wie die APU-K9 Units durch den Busch zu fegen, waren wir sogar langsamer als die Nature Guides Dylan oder Nunu unterwegs und es war eher mit einem Schlendern als einem Walk zu vergleichen.
“Slow Patrol. Es geht hier nicht um Geschwindigkeit, sondern um zu sehen” erklärte mir Seni. “Die Fallen sind schnell zu übersehen. Wir lassen uns Zeit, sind dafür aber gründlicher.”
Das leuchtete mir ein. Immer wieder hielt Seni inne und berichtete mir von wilden Abenteuern an dieser oder jener Stelle und die Ansammlungen von Knochen erzählen ihrerseits bildgewaltig das Leid von erdrosselten Njalas, Impalas und sogar Zebras.
“Um eine Falle aufzubauen braucht man bestimmte Gegebenheiten. Gedrungene Bäume oder Zweige und dichtes Gehölz, um die Tiere in die Falle zu losten. Darum haben wir nach der Aktion mit den 66 Fallen dieses Gebiet erstmal großzügig abgelichtet“, erklärte mir Suni, während er auf die freien Stellen um uns herum deutete und Bheki wieder zustimmend nickte.
Die beiden Field Ranger waren, anders als die Jungs von einer ausschließlichen Anti-Poaching Einheit, unbewaffnet und wirkten, durch die unterschiedliche Uniform, fast selbst ein wenig wie Wilderer. Doch sie waren hoch motiviert und verstanden ihr Handwerk. Nach zwei Stunden und knapp 4,44 Kilometern über Wildtierpfaden und vorbei an unzähligen, verspritzen Hippo Dung-Middens hatten wir tatsächlich eine alte Drahtfalle sowie das Gehäuse einer vermissten Kamerafalle gefunden.
“Einmal sind die Wilderer hier auch mit ihren Hunden auf das Gebiet gekommen. Wir haben sie dann entdeckt und vom Reservat getrieben, während sie ihre Hunde zurückgelassen haben. Daraufhin haben wir dann die Hunde aus dem Reservat gelassen und sie so lange verfolgt, bis sie ihre Herrchen gefunden haben” berichtet mir Suni grinsend eine weitere Abenteuergeschichte, während wir uns wieder zu dritt in das aufgeheizte Auto quetschten und bei mittlerweile 34 Grad zu einer weiteren Streifenfahrt, nun auf dem gegenüberliegenden Gelände, aufbrachen.

Mehr Infos gibt es unter:
www.wildtomorrow.org