Ich stand mit Mangdun am Ufer und schaute auf das Langboot, welches hilflos auf der Seite lag und auf das aufsteigende Wasser wartete. Den gestrigen Tag hatte ich damit verbracht, die nächsten Bäume, Anfahrten und Unterkünfte zu ermitteln. Fähre, Flug, Mietauto und Hotels waren gebucht und ich hatte mir sogar Interviewfragen zur Stärke überlegt, für den Fall, es sich dazu eine Gelegenheit ergeben sollte. Es war ein tolles Gefühl gewesen, den ganzen Tag auf der Veranda, an dem großen Tisch zu sitzen und mit gutem Gewissen „Bürokram“ zu machen. Gutes Gewissen daher, da ich zwar an dem Tag nichts erlebte und anschaute, die Planung aber essentiell für die nächsten Tage, meine Ziele und somit meine Arbeit war. Ja genau. Dieser Tag voller Planung machte mit nochmal deutlich: Ich bin hier nicht nur zum Spaß, ich arbeite hier gerade.
Zu meiner Erleichterung hatte sich am Abend Anna bei mir gemeldet und mir mitgeteilt, dass die Boote morgen früh wieder rausfahren würden. Bis zuletzt stand die Fahrt auf der Kippe, denn das Wetter sah nicht wirklich besser aus. Doch der Vorteil dieser Inselregion war: Das Wetter war stetig im Wandel und auf den Wetterbericht, inklusive Regenradar, konnte man sich hier absolut nicht verlassen.
Um 08:00 Uhr ging es dann los ganz in den Nord-Osten der Insel, um dort auf das hölzerne Langboot zu steigen. Anna fuhr mit ihrem Vater zusammen auf dem Roller vor, ich düste hinterher. Nun wartete ich mit Mangdun, ein freundlicher, alter Fischer mit sehr sehr rudimentären Englischkenntnissen, auf die Flut, um ablegen zu können. Gespannt, voller Vorfreude auf den Tag aber auch voller Ungeduld beobachtete ich die anrollenden, flachen Wellen und konnte es kaum erwarten loszulegen. In Gedanken war ich schon beim Ablichten des Baumes, als mir plötzlich einfiel, dass es doch genau solche Situationen waren, die ich, neben den Motiven, erleben wollte. Ich sollte mich also nicht nur ungeduldig auf das Erreichen des Zieles, der Motivaufnahme, fokussieren, sondern die Situation an sich genießen und auskosten! Stattdessen war ich aber wieder in einen „To-Do-Modus“ geraten!

Ich atmete tief ein, langsam aus und setzte mich an einen Tisch aus massivem Stein am Ufer. Ich ließ den Blick schweifen, begann zu beobachten, wahrzunehmen und einfach zu genießen. Auf einmal sprang Mangdun auf und lief zum Boot. Das Wasser war da! Verdutzt, wie schnell es dann letztendlich doch gegangen war, schaute ich ihm hinterher, woraufhin er heftig zu winken begann und mit mittels Handzeichen klar machte, dass ich das Boot rausschieben sollte. Ich eilte ebenfalls zum Ufer, warf meinen Wasserdichten Beutel aufs Boot und gab einen etwas zu kräftigen Schub gegen den Bug des Bootes, woraufhin dieses aufs Wasser hinausschoss und Mangdun beschwichtigend, aber lachend zu rufen begann. In letzter Sekunde zog ich mich selbst aufs Boot und nahm vorne im Bug, Blick in Fahrtrichtung, Platz. Nun ging es los! Auf zum Big Tree!
Das Boot war ein altes, typisches Langboot aus Holz, wie ich es schon oft in Thailand gesehen hatte, nur diesmal war es etwas kleiner. Dafür war der LKW-Motor, welcher typischerweise einfach aufs Heck geschraubt wurde, etwas kleiner und leiser. Mangdun steuerte das Boot an der Küstenlinie entlang, bis wir uns schließlich von der Hauptinsel Ko Yao Noi lösten und eine der vielen kleineren Felsinseln im Nordosten ansteuerten. Um uns herum öffnete sich ein beeindruckendes Panorama und wir waren unvermittelt von unzähligen Felsformationen umgeben, die aus dem Meer zu wachsen schienen. Ich erinnere mich an die Worte von Maria, kurz vor der Abfahrt. Vierundvierzig kleine Inseln sollen zu der gesamten Region Ko Yao Noi und Ko Yao Yai, der Schwesterinsel im Süden, gehören und es gab scheinbar eine Menge über sie zu erzählen. Zumindest schloss ich darauf, weil Mangdun nun plötzlich sehr motiviert und voller Elan zu erzählen begann und dabei immer wieder auf die Felsen und verschiedensten Inseln deutete. Leider war es mit meinem kaum existenten Thai nicht möglich, auch nur einen Ansatz zu verstehen und Mangdun andererseits konnte für solche Ausführungen einfach zu wenig Englisch, was ihn aber nicht davon abhielt, trotzdem weiter auf Thai weiter zu erzählen.
Bis auf ein weiteres kleines Fischerboot am Horizont waren wir komplett alleine. Das Meer hatte sich sichtlich beruhigt und die noch nicht so starke Morgensonne wärmte angenehm, während eine leichte Brise die manchmal aufspritzende Gischt in mein Gesicht wehte und sich in mir wieder ein großartiges Glücksgefühl bildete. Genauso hatte ich es mir vorgestellt: Ich, alleine, auf individueller, authentischer Anfahrt mit einem kundigen Einheimischen, auf dem Weg zu einem Motiv, in einer Region, die nicht touristisch überfüllt ist und die ich ohne die „Motivjagt“ so nie entdeckt hätte. Ich lebte meine Vision!
Mangdun steuerte das Boot nicht direkt zum Stand des Big Tree, sondern fuhr zuvor einige sehenswerte und beeindruckende, wunderschöne Inseln und Strände an. Dies war aber so nicht abgesprochen gewesen und immer wieder wanderten meine Gedanken zu meinem Ziel, dem Big Tree. Erst als ich mir klar machte, dass ich gedanklich nach dem Big Tree vermutlich so „überfüllt“ sein würde, dass eine anschließende Sightseeing-Tour dann wirklich verschenkt wäre, konnte ich mich wieder voll den ungeplanten Eindrücken ergeben und sie genießen. Scheiß „Aktivmodus“.
Mangdun zeigte mir eine riesige, bunte Steilküste, eine Höhle voller tropfsteinförmigen Strukturen, in der offensichtlich teilweise Menschen übernachteten und mehrere, paradiesische kleine Strände und Buchten. Am meisten beeindruckte mich eine verbogene, durch Felsen umschlungene Lagune voller Mangroven. Das Echo des hohen Chors der dortigen Vögel hallte durch die Lagune. Der Sand war wunderbar weich, weiß und grobkörnig und bestand überwiegend aus alten, abgestorbenen und fein zermahlenen Korallen. Das warme Wasser umspielte sanft meine Knöchel, während ich mit dem Kopf im Nacken den Geräuschen der Umgebung, den singen der Vögel, dem Plätschern der Wellen und dem tropfen von Felswasser, genussvoll lauschte. Irgendwie fühlte ich mich plötzlich ein wenig wie in einem Tomb Raider-Computer-Spiel, nur viel besser, intensiver und ohne blutrünstige Monster oder wild um sich schießende Gegner. Am liebsten wäre ich an diesem Ort noch ein wenig länger geblieben, so friedlich und magisch war es hier, aber ich hatte schließlich eine Mission zu erfüllen und ein Motiv abzulichten. Außerdem wusste ich ja nicht, wohin mich Mangdun noch bringen würde, es war also Zeit, aufzubrechen. Ich stand auf, schwamm durch das Loch in der Felswand kehrte und zu Mangdun zurück, der es sich derweil auf einem Baumstumpf am Strand gemütlich gemacht hatte und geduldig wartete.
Der kleine Strand, welchen wir nun ansteuerten, schien, im Vergleich zu den zuvor gesehenen Spots eher unspektakulär und es dauerte ein wenig, bis ich Begriff, dass dies der Strand der Bucht des Big Tree sein musste. Schlagartig wechselte meine Stimmung von losgelöster Entspannung zu freudig, aufgeregt fokussiert. Mangdun steuerte sein Langboot mit dem Bug knirschend in den dunkelgelben Sand, während ich zügig meine Turnschuhe anzog und das Hemd überwarf. Fast vergas ich, mich gegen Moskitos einzusprühen, ergriff mein Handy und Notizbuch und sprang trockenen Fußes von Board.
Der Strand war klein, bis an die Uferkante mit Bäumen bewachsen und sehr friedlich. Linksseitig gab es ein kleines Häuschen, in dem offensichtlich ein Ranger eine Nationalparkgebühr kassieren sollte – nur war niemand da. Als ich dennoch grob in die Richtung ging, rief mir Mangdun etwas auf Thai zu, winkte und deutete auf einen hölzernen Pfad, welcher tief in den Wald hineinführte. Ich folgte ihm. Schlagartig veränderte sich die Geräuschkulisse. Das rhythmische, ruhige Rauschen des Meeres wich einem schrillen Orchester von Zikaden und dem Gesang unzähliger Vögel. Der bemerkenswert gut ausgebaute hölzerne Pfad, dem wir folgten, schlängelte sich zwischen beeindruckenden, interessanten Bäumen und Büschen hindurch, jedoch hatte ich für diese „Nebenpflanzen“ kein Auge mehr. Ich hatte jetzt wirklich nur noch ein Ziel: Den Big Tree.

Nach vermutlich bereits 100 Metern stießen wir auf einen riesigen Baum mit enormen breitem Wurzelwerk. Teerapat hatte mir zuvor erzählt, dass manchmal einige Touristen fälschlicherweise einen anderen, ganz in der Nähe befindlichen großen Baum, für den DEN Big Tree hielten. Teerapat hatte mir am Abend zuvor noch erzählt, dass einige Touristen mit sich und dem Baum Fotos machten, welche sie dann später stolz Teerapat präsentierten, woraufhin dieser sie dann aber über den Irrtum aufklärte und große Enttäuschung eintrat. Dies sollte mir auf gar keinen Fall passieren, darum fragte ich Mangdun, ob dies wirklich der Big Tree sei. Er schaute mich ein wenig verdutzt an und ich konnte in seinem Gesicht erkennen, dass er sich gerade fragte, ob ich ein wenig blöd sei. Lachend deutete er auf das riesige Wurzelwerk, rief laut „Big Tree, Big Tree“ und setzte sich auf eine große Wurzel des Baumes. Ich stellte meine wasserdichte Tasche ab und ließ den riesigen Baum aus einiger Entfernung auf mich wirken. Ich hatte es geschafft! Ich war bei meinem ersten „richtigen“ Motiv. Ich war ein „exploring Artist“. Ich machte ein paar Übersichtsaufnahmen, sickte diese zur Sicherheit an Teerapat. Sogar hier in dieser abgelegenen Bucht gab es in Thailand Mobiles Netz. Dann begann ich, um den Baum herum zu gehen, diesen auf mich wirken zu lassen und erstmal in der Situation anzukommen.
Big Tree
- Art: Tetrameles nudiflora; Sapung (Thai)
- Größe: 64,20 m
- Umfang: > 24,20 m
- Alter: > 500
- Ort: Ko Yao Noi; Ao Kean Bucht
Es war schon eine besondere Stimmung! Dieser Baum, mit diesem riesigen Wurzelwerk, wie Schluchten geformte Brettwurzeln, war umgeben von einer Vielzahl weiteren beindruckenden Bäumen und riesigen Pflanzen. Einige Bäume waren dem Big Tree sogar sehr nahegekommen und ein Baum wuchs sogar direkt aus dem Schoß des Big Tree hervor. Er wurde offensichtlich von diesem akzeptiert und sogar integriert. Der Chor von Zikaden und Vögeln war mittlerweile etwas leider und sanfter geworden und wurde durch ein sanftes, weit entferntes, rhythmisches Rauschen des nahen Meeres untermalt. Eingebettet und behütet von steilen, schroffen, schwarzen Felswänden konnte dieser Baum, trotz dieser direkten Nähe zur Küste, seit 500 Jahre zu dieser enormen Größe heran wachen. Fest gebunden an einen Ort, dennoch frei in seiner Entfaltung und Ausdehnung. Er war so ruhig und standhaft, mächtig und anmutig. Seit 500 Jahren in scheinbarer passiver Existenz und zugleich so präsent.
Als ich zu meinem Startpunkt zurückkehrte, war Mangdun bereits aufgestanden und im Begriff zu gehen. Offensichtlich reichten ihm ein paar Minuten an diesem Baum und er verstand es nicht ganz, warum ein Farang, ein „Westler“ wie ich, so lange bei diesem Baum bleiben wollte. Ich konnte ihn allerdings noch motivieren, ein schiefes Foto von mir vor dem Baum zu schießen, bevor er leicht kichernd den Rückweg zum Boot antrat. Ich grinste. Ich hatte noch gar nicht richtig mit der Motivsuche angefangen, nur ein zweimal drauflos geknipst und konnte nur erahnen, dass dies noch einige Zeit in Anspruch nehmen würde. Doch wie sollte ich anfangen? Mir fiel in diesem Moment auf, dass ich mir über den wirklich konkreten Ablauf noch gar keine Gedankengemacht hatte. Zuhause hatte ich ab und zu mal meditiert und dabei insbesondere einen Schwerpunkt auf der Achtsamkeit gegenüber meiner Umgebung gelegt. Dies könnte ich hier jetzt auch machen, dachte ich und setzte mich auf die Wurzel, wo zuvor Mangdun gesessen hatte. Ich wollte nun mit so vielen Sinnen und Eindrücken wie möglich, diese Situation und Umgebung wahrnehmen. Ich schaute mich um, Ich strich über die Rinde der riesigen Wurzel und klopfte gegen das Holz.

Interessant war, dass dieser Baum, trotz seiner schieren Größe, aus sehr leichtem, weichem Holz zu bestehen schien. Er war so groß, regelrecht „breitbeinig“ und trat so massiv und stabil auf, war aber in Wirklichkeit so weich, fast „leicht“ und im Grunde irgendwie sehr verletzlich, schon schutzbedürftig. „Massive Leichtigkeit. Widerstandsfähigkeit trotz Weichheit. Ein Weicher, leichter Riese“ schoss es mir in den Kopf. Vermutlich hatte er seine Größe nur durch den Schutz der anderen, viel kleineren Bäume und den Mantel der Massiven Felswände im Rücken, erreichen können, dachte ich. Schließlich war das Meer sogar noch zu hören und in den letzten 500 Jahren gab es sicher den einen oder anderen Sturm, welcher mit zerstörerischen Böen in die kleine Bucht gepeitscht war. „Stärke, durch den Schutz anderer. Stärke durch Unterstützung und Integration“dachte ich, während ich langsam die Augen schloss und mich auf die Geräusche und die Atmosphäre der Umgebung konzentrierte.
Während ich mich auf die Umgebungsgeräusche konzentriert hatte, hatte mich ein Moskito als Festmahl ausgemacht und so lange nicht lockergelassen, bis er unbemerkt die einzige Stelle gefunden hatte, welche ich nicht eingesprüht hatte. Meine Nase. Der Sound zweier aufeinanderschlagende Holzstäbe von meinem Handy signalisierte mir, dass es nun Zeit war die Augen zu öffnen und Fotos zu schießen. Ich rieb kräftig meine juckende Nase, als mein Blick auf eine Nachricht von Teerapat fiel: Ja, es war tatsächlich der Big Tree. „Doppelt bestätigt, sehr gut“ grinste ich in mich hinein, während mit der Motivsuche begann.
Mangdun hatte für jeden eine riesige Portion Bratreis mitgebracht und gemeinsam saßen wir nun an einem hölzernen, massiven Tisch am dunkelgelben Strand und aßen zügig und schweigsam. Ich hatte um die neunzig Fotos geschossen und wurde in meinem Wahn nur durch Mangdun unterbrochen worden, welcher aufgeregt zu mir kam und mir mittels Handzeichen mitteilte, dass wir demnächst mal losfahren sollten. Denn das Meer begann sich zurück zu ziehen und wir wären sonst bis zur nächsten Flut in dieser friedlichen Bucht stecken geblieben.
Ich sammelte die leeren Plastikverpackungen ein und warf sie in einen riesigen Müllbehälter aus Stein, wenige Meter vom Strand entfernt. Dies war insofern bemerkenswert, da die Thais sich normalerweise nicht so sehr um Müll kümmerten. Dementsprechend zugemüllt sahen die Strände und Straßen aus. Oftmals gab es aber auch einfach gar keine Mülltonnen. Dies war auf Ko Yao Noi und insbesondere an diesem Strand, offensichtlich anders. Die ganze Insel war irgendwie anders. Erneut, diesmal vorsichtiger, schob ich das Boot zurück ins Meer, während Mangdun den Motor startete. Zurück ging es wieder vorbei an unzähligen wunderschönen Buchten, Stränden und magischen Felswänden. Die Anzahl der Boote auf dem Wasser hatte nun etwas zugenommen und mittlerweile war auch das eine oder andere weiße Sportboot auszumachen. Aber selbst jetzt war dies sehr wenig, im Vergleich zu den anderen Inseln der vergangenen Wochen.
Glücklich schaute ich über den Bug auf den Horizont. Mission erfolgreich. Motiv Nr. 1 abgelichtet. Müde und zufrieden schloss ich die Augen und spürte den warmen Wind auf meiner Haut. Meine Arbeit auf dieser Insel war getan. Alle weiteren waren Stationen geplant. Jetzt hatte ich erstmal Freizeit und konnte diese Insel die weiteren drei Tage einfach genießen. Ein herrliches Gefühl!
