Der Khun Chang Khun Phaen Legende nach hat sich Khun Phaen am Fuße dieses Tamarindenbaumes niedergelassen, um dort Schwarze Magie zu studieren. Der Großmeister Khong soll Khun Phaen in hier gelehrt haben, aus den Blättern des Tamarindenbaumes Wespen und Hornissen zu erschaffen und diese wirkungsvoll als Kriegswaffen einzusetzen. Diese Waffen sollten dann helfen, die anrückenden Feinde, die Armee seines Bruders Khun Chang, final zu besiegen. Im Kern dieses hochemotionalen, fünfzigjährigen Bruderstreites geht es um die Liebe einer Frau, Wanthong, welche letztendlich durch den damaligen König zum Tode verurteilt wird, weil sie sich nicht zwischen den um sie kämpfenden Brüdern entscheiden kann.
Diese Legende, voller Heldenmut, Romantik, Liebe, Sex, Gewalt, Magie und auch Horror und Komik, endet in zwei Kriegen und ist eine der bekanntesten und wichtigsten Legenden in der thailändischen Kultur. Sie ist in zahlreicher Kunst und Kultur verarbeitet worden, prägt Lieder, Sprichwörter und Redewendungen und wird sogar in der Schule gelehrt.
Allein diese Sage ist von dem Thema der Stärke und Schwäche durchdrungen. Aber das unglaubliche Alter von über 1000 Jahren und dass es sich hier um den größten Tamarindenbaum der Welt handeln soll, macht diesen Baum, vor dem ich jetzt stehe, als Motiv für mich perfekt. Grinsend und begeistert stehe ich also in Suphan Buri, im Wat Knae Tempel und schaue auf den alten Stamm und die alten Äste, während mich ein alter Thai, der hinter seinem kleinen Stand sitzt und beschriebene Papierstreifen verkauft, argwöhnisch beobachtet.

Dieser Baum und vor allem die Umgebung und Stimmung ist völlig anders, als bei den anderen beiden Bäumen. Dieser hier steht mitten in einem Tempel. Nicht abseits, in einem Wald oder tief im Dschungel. Um ihn zu erreichen, braucht es auch kein Boot, keine Königskobra wartet, keine Affenbande blockiert den Weg und keine Stufen müssen erklommen werden. Diesmal musste ich lediglich durch einen kleinen Torbogen gehen und stehe nun direkt vor dem legendären Baum. Der Baum wird mittels eines Metallzaunes vor Berührungen geschützt und ist von einem gepflasterten, steinernen Platz umrahmt. Dieser Baum lebt nicht in harmonischer Nachbarschaft anderer Bäume und Büsche. Er seht isoliert in einem gepflasterten Park, umgeben von mittlerweile fast schon wieder „glühenden“ Steinplatten.
Etwas verborgen, über einen verwinkelten Pfad erreichbar, eröffnet sich ein weiterer Platz, auf dem eine riesige Wespenstatue platziert thront. Die Beine der Wespe wurden mit bunten Bändern umwickelt und Sie ist mehr als nur eine Dekorative Statue. Das Tempelgeländer an sich ist bereits gut frequentiert, aber der Andrang vor der Wespe ist wirklich groß. Viele Thais kommen hier her, entzünden zuvor erworbene Räucherstäbchen an den neben der Wespe aufgestellten Laternen an und beten, knieend, vor der Wespe. Einige Thais kriechen, irgendwie auf eine andächtige, respektvolle Art zwischen den Beinen der Wespe hindurch, fast, als würden sie ebenfalls Beten. Anschließend wird dann allerdings vor der Wespe posiert und Fotos für Instagram geschossen. Die Thais scheinen grundsätzlich sehr locker und tolerant mit ihren heiligen Stätten umzugehen und irgendwie wirkt das hier alles auf mich ein wenig wie ein Freizeitpark, als ein Tempel.
Hier, vor dem Baum selbst, sind kaum betende Thais anzutreffen. Nur der alte Mann sitzt hier an seinem kleinen Tisch und verkauft Gebetszettel. Vereinzelt kommen schon mal Interessierte in diesen Teil des Tempels und schießen schnell ein paar Fotos, begeben sich dann allerdings zügig zu zwei großen, dunklen, hölzernen Gebäuden im hinteren Teil des Platzes. Irgendwie merkwürdig. Ich hatte es mir genau andersherum vorgestellt, verehren viele Thais doch immer noch die Geister in den Bäumen und der Natur an sich. Ich schaue einem Pärchen hinterher, welches ebenfalls in den Holzgebäuden verschwindet und wende mich wieder dem Baum zu. Alles andere interessiert mich zurzeit nicht. Ich habe eine Mission.
Der legendäre Tamarind
Art: Tamarindenbaum (Tamarindus indica)
Größe: 20 m, größter Tamarindenbaum der Welt
Umfang: 9,50 m
Alter: > 1023 (2023), zweitälterer Baum Thailand
Ort: Thailand, Suphan Buri Wat Knae Tempel
Legende: Khun Chang Khun Phaen poem
Der Tamarindenbaum ist mit seinen über 1000 Jahren der zweitälteste Baum Thailands. Er hat einen knorrigen, gedrungenen Stamm und seine großen, breiten Äste spannen ein großes „Segel“ über den Hof. Die Wurzeln sind diesmal nicht sichtbar, der Stamm ist nicht glatt oder lang, dafür knorrig und wulstig und er verzweigt sich sehr schnell in viele, dicke Äste. Die beeindruckende Wirkung entsteht dieses Mal nicht durch die massive Größe des Stammes und der des Wurzelwerkes, sondern vielmehr durch die Struktur und geschwungenen, knorrigen Formen des Stammes, der riesigen, gespreizten Krone und die federartigen, sehr feingliedrigen Blätter. Die Silhouette des Baumes, aus der Entfernung, hat diesmal eine besondere Wirkung. Waren die beiden ersten Bäume vom Stamm und aus der Entfernung eher schlicht und fast ein wenig langweilig, entsteht hier ein interessantes Bild eines riesigen, irgendwie krakenförmigen Gebildes. Die 500 Jahre mehr, die dieser Baum bereits auf dieser Welt steht, haben ihre Spuren hinterlassen und das Alter sieht man ihn diesmal wirklich an. Wie auch ein alter Mensch im hohen Alter oft eine Stütze benötigt, sind etliche Äste durch dicke Betonpfeiler, in Baumstammoptik, gestützt. Einige dicke Äste sind bereits abgebrochen, andere Äste wurde gekürzt und die Überreste liegen, fast wie aufgebart, neben dem Stamm.
Es entsteht der Eindruck, als hätte dieser Baum den Zenit seines Lebens schon lange überschritten und überlebte nun nur noch dadurch, dass er durch Hilfe von außen, vom Menschen, am Leben gehalten wurde. Das hohe Alter war also gar nicht „sein Verdienst“? Doch ein genauerer Blick, ein Wechsel der Perspektive, offenbarte, wie falsch dieser Eindruck war. Nachdem ich mich dem Baum angenähert hatte und ihn intensiv, aus nächster Nähe und mit allen Details erlebt hatte, erkannte etwas bemerkenswertes: Aus den alten „Wunden“ der abgebrochenen Äste sprossen zahlreiche junge, neue Zweige! Die filigranen, federartigen Blätter, die aus diesen neuen Zweigen sprossen, waren jung, knackig und von saftigem, fleckenlosen Grün.
Schon irgendwie interessant: Über 900 Jahre hat dieser Baum ohne menschliche Hilfe überlebt – nun meint der Mensch aber, dass er die Hilfe durch ihn benötigt. Ich frage mich, wie dieser Baum wohl aussehen würde, wenn der Mensch hier nicht eingegriffen hätte? Wäre er immer noch der zweitälteste Baum Thailands? Hätte er weiterhin überlebt? Vermutlich ja, nur wie sähe er dann aus? Ein dicker Stamm, mit großen Löchern ehemaliger, dicker Äste, gekrönt durch viele neue, junge Ästchen und Zweige? Der Mensch, der sich aufgeschwungen hatte, diesem Baum zu „helfen“, tat aber das, was er immer tut: Er versucht, den ihm bekannten Status Quo zu halten. Doch der Baum hatte über 900 Jahre alleine überlebt. Er brauchte keine Hilfe, um weiter zu überleben. Er hätte lediglich sein Erscheinungsbild geändert, dicke, alte Äste abgeworfen, neue, junge Äste spießen lassen. Dies tat er ja schon seit hunderten Jahren. Durch den Eingriff des Menschen wurde ihm der Prozess der Erneuerung nun verwehrt.

„Erneuerung“. Die Stärke dieses Baumes war seine Erneuerung – Und seine Widerstandsfähigkeit. Aber nicht in dem Sinne, dass er allem trotzte. Nein, die Zeit, die Vergänglichkeit, der Tod hatten bei ihm bereits einige tiefe Spuren hinterlassen. Er hatte die Vergänglichkeit hingenommen, akzeptiert und eine Lösung gefunden. Seine Widerstandsfähigkeit, seine Stärke, besteht darin, einfach immer weiter zu machen, sich immer wieder zu erneuern. Alte Äste „abzuwerfen“ und aus den entstandenen Wunden, sowie seiner knorrigen, uralten Mitte heraus, immer wieder frische Zweige spießen zu lassen. Er gab und gibt niemals auf, macht immer, unablässig weiter. Die Zeit, die „Erlebnisse“, die er in seiner ewigen Erneuerung erlebt hatte, hatte ihn deutlich gezeichnet. Die entstandenen Spuren entwickelten nun eine magische und weise Wirkung. Seine Stärke liegt also auch in seinem Willen, zu überleben, seiner verwunschenen, magischen Wirkung – und in der Legende, die im zugeschrieben wurde.
Es ist mittlerweile wieder 35 Grad heiß geworden. Der Himmel ist strahlend blau, was zwar schön für einen Urlaub ist, aber aufgrund des Schattenwurfes schlecht, wenn man Details und Strukturen eines Baumes Fotografieren möchte. Schweiß rinnt mir wieder den Rücken runter und mein Handy glüht förmlich, während mir eine Pushnachricht plötzlich mitteilt, dass ich nur noch 10 Prozent Speicher zur Verfügung habe. „Puh!“ Ich öffne die Galerie und begutachte meine Ausbeute. Knapp 120 Bilder sind es diesmal geworden, viele davon sehr ähnlich oder doppelt. „Besser haben, als brauchen“, denke ich mir, so schnell komme ich hierhin ja auch nicht zurück.
Ich halte dem alten Mann an kleinen Tisch mein Handy mit der Übersetzungsapp entgegen. Nachdem ich meine Gedanken aufgezeichnet hatte, bin ich diesmal fest entschlossen, einen Interviewpartner zum Thema der Bäume, der Beziehung der Thais zu den Bäumen und über die Stärke allgemein zu finden. Der alte Mann gibt mir das Handy wieder und schüttelt traurig und dennoch lächelnd den Kopf. Er kennt also niemanden, der mir meine Fragen auf englisch beantworten könnte. Vielleicht ja bei der großen Wespe?
Bei der Wespe sind zwar tatsächlich immer noch viele betende Thais, aber ich kann niemanden entdecken, der augenscheinlich etwas mit dem Tempel zu tun hat und entsprechend kundig wäre. Letzte Idee ist ein Stand am Eingang des Tempelgeländes, an dem Räucherstäbchen und kleine Buddhafiguren verkauft werden.

Hinter dem Tresen steht eine ältere Frau, welche gerade Pakete auspackt und einen Mönch, welcher allerlei Gegenstände an geduldig wartende Thais verkauft. Als ich die Frau anspreche, schüttelt sie war zuerst den Kopf, hält dann aber inne und ruft etwas zu dem Mönch. Der Mönch, ein in orangem Stoff gehüllter Mann, mit sehr kurz rasierten Haaren, ende dreißig, dreht sich zu mir um und lächelt. Als ich ihm die Übersetzung meiner App zeige, wird sein Lächeln sogar noch größer. „Jess, a little bit“ sagt er, nimmt sein eigenes Handy an sich und klettert flink unter dem Tresen hindurch. Ich erläutere ihm kurz, wer ich bin, was ich hier mache und dass ich gerne mehr Informationen zu dem Tamarindenbaum sowie seiner Legende hätte, woraufhin er sich nun spontan umdreht und winkend in Richtung des alten Baumes läuft. „Ok, also zurück zum Baum“.
„Old Tree“, sagte er, als wir wieder in dem Innenhof angekommen waren und deutet auf den alten Baum. Ich versuche ihm zu verstehen zu geben, dass ich den Baum schon etwas kenne, aber nun nach Informationen zu dem Baum, seiner Geschichte und der besonders der Sage suche. „Ah“, sagt der Mönch und läuft erneut los, diesmal Richtung der hölzernen Gebäude. Dort angekommen bricht, in einer Mischung aus Englisch und Thai, ein Redeschwall aus ihm heraus. Ich verstehe so gut wie gar nichts, woraufhin wir kurzerhand zu den Übersetzungsapps wechseln. Allerdings konnte mein Handy nicht aus dem Thai heraus übersetzen und sein Handy nicht aus dem Englischen bzw. Deutschen. So kommt es, dass Kiattsak, wie er sich mir mittlerweile vorgestellt hat, nun motiviert von Raum zu Raum, läuft, aufgeregt in sein Handy spricht, mir dieses dann entgegenhält, woraufhin ich meine Fragen in mein Handy spreche und es dann ihm entgegenhalte. Von außen muss dies ein recht amüsanter Anblick gewesen sein, aber es funktioniert anfangs recht gut. Doch schon bald stößt auch diese Methode an ihre Grenzen und viele Übersetzungen machen teilweise gar keinen Sinn, wodurch das Zuhören sehr anstrengend wird und eine Menge Informationen verloren gehen.

Kiattsak schaut mich stumm an. Hier scheint es nichts mehr zu berichten zu geben und ich entschließe mich, nochmals, diesmal ganz spezifisch, nach dem Teil der Legende mit den Wespen zu fragen. Kiattsak macht plötzlich ein Gesicht, als ob er gerade eine bahnbrechende Erkenntnis erlangt hätte und setzt sich wieder mit kleinen, flinken Schritten in Bewegung. Diesmal geht es an dem Pier entlang und auf eine kleine Mauer am Ende zu. Eigentlich geht es hier nicht weiter und ich bin sehr gespannt, was er mir hier nun zeigen möchte, als Kiattsak plötzlich auf die Mauer klettert und flink auf dieser seinen Weg fortsetzt. „Ok, auch eine Möglichkeit“, sage ich leise und etwas verdutzt zu mir und klettere ebenfalls auf die kleine Mauer. Gemeinsam balancieren wir nun über die schmale Mauer, welche den einen Teil des Tempels, den Innenhof mit dem Baum und dem Museum, von dem anderen Teil, mit der Wespe, einem kleinen Café und den eigentlichen Tempelgebäuden, trennt. Schon nach wenigen Metern springen wir wieder, unter den interessierten Augen betender Thais, von der Mauer und stehen nun einige Meter von der riesigen Wespe entfernt. Kiattsak geht geradewegs vor die Wespe und hält direkt neben zwei betenden Thais, um sofort wieder mit seinen Ausführungen zu beginnen. Alleine hätte ich mir niemals erlaubt, solch ein, für mich irgendwie respektlos scheinendes Verhalten, in einem Tempel an den Tag zu legen. Doch mit dem Mönch Kiattsak als meinen Guide, fühlte es sich weder falsch oder respektlos an, über die Tempelanlagen zu klettern und Betende durch laute Gespräche zu stören. Weiter geht es in mehrere der offenen, großzügig verzierten Tempelgebäude mit goldenen Buddhafiguren und Kiattsak erzählte mir nun ausführlich, aber mühsam, die Legende des Tamarindenbaumes, von der Magie und der magischen Wespen- Hornissenarmee.








Kiattsak ist wirklich sehr freundlich, aufgeschlossen, motiviert und scheint sehr kundig. Sehr gerne hätte ich ihn im Rahmen eines Interviews zu seiner Sicht von Stärke befragt, doch da wir uns nur über die teilweise sehr mangelhafte Übersetzungsapps unterhalten können, entscheide ich mich doch gegen ein Interview. Ich verabschiede und bedanke mich überschwänglich. Eines ist mir mittlerweile klar geworden: Für die nächsten Expeditionen, die in ein Land geht, in dem ich die Sprache nicht fließend spreche, brauche ich mindestens meine Fragen in der Landesprache und im besten Fall einen kundigen Dolmetscher an meiner Seite.
