Gegen 12:45 Uhr erreiche ich den Wat Ton Pho Sri Maha Tempel in Prachin Buri, im Nordosten von Bangkok. Die Straßenverhältnisse hatten sich sehr schnell zum schlechteren verändert und der Eindruck von Nordeuropa im Hochsommer war nun gänzlich verschwunden. Die Orte, die an der Straße lagen, waren staubig, groß und geschäftig. Die häufig bis zu 20 Meter hohen Gebäude waren nun oft im desolaten Zustand und überall hingen die oberirdischen Stromkabel in einem chaotischen Kabelwirrwarr. Schön war was anderes.
Nachdem mich das Navigationsgerät von der Hauptverkehrsstraße gelotst hatte, wurden die Straßen und Gebäude zwar kleiner, aber die Zustände besserten sich kaum. Ich bog rechts ab, folgte einer Art kleinen Umgehungsstraße und fuhr- an dem Tempel vorbei. „Danke Navi, nächstes Mal gerne etwas früher Bescheid geben“. Nachdem ich gewendet hatte, entdeckte ich eine kleine Einfahrt in einer weißen Mauer. Ich steuerte meinen, mittlerweile komplett gelb-braun-grau eingestaubten Wagen auf einen Schotterplatz und hielt im Schatten eines Baumes an. Vor mir erstreckte sich wieder ein großes Tempelgelände, mit vielen, großen Tempelgebäuden. Allerdings diesmal ohne eine Menschenseele. Der ganze Ort war sehr gepflegt und die Tempelbauten waren auch alle geöffnet. Nur, es war keiner hier. Es war hier total verweist. Wie eine Kulisse, ohne Darsteller. Ich war mir gar nicht sicher, ob ich tatsächlich auf einem Parkplatz stand, allerdings war hier ja auch keiner, den es irgendwie stören könnte.

Anzeigentafeln gab es keine. Auch nicht auf Thai. Es war wieder einmal ein extrem warmer Tag mit klarem blauem Himmel und über 35 Grad. Das Gelände war überwiegend mit großen Steinplatten ausgelegt oder bestand aus Schotterflächen. Zwischen den Gebäuden gab es nur vereinzelt ein paar dürre Bäumchen, im hinteren Bereich stachen teilweise ein paar größere Bäume hervor. Etwas planlos lief ich auf dem Tempelgelände umher. Vorbei an großen, hölzernen Bungalows, auf deren Veranda teilweise orange Stoffe zum Trocknen hingen, welche aber auch fast auseinander vielen. Es gab einige Wirtschaftsgebäude und auch so etwas wie eine Kantine, nur keine Menschen. Die Tempelgebäude an sich waren sehr beeindruckend, viel vergoldet, fein verziert, sauber und gepflegt.
In der Nähe eines großen Tempels stieß ich auf einen Baum besonderer Größe, welcher mit bunten Stoffen umschlugen war. Der Baum hatte sich, ein bisschen wie der Big Tree in Krabi, um einen Stein gewunden. Diesmal hatten die Mönche aus dem Stein allerdings einen Schrein zum Beten geschlagen. Es war schon ein beeindruckender Anblick, aber ich hatte irgendwie das Gefühl, dass dies nicht der älteste Baum Thailands sein würde. Endlich traf ich auf einen Menschen, der gerade auf ein Baugerüst klettern wollte, um die Wand eines Gebäudes zu streichen. Ich fragte ihn mittels Übersetzungsapp nach dem alten Baum und er deutete sofort auf die Ausfahrt. War ich hier falsch? Aber die Adresse war korrekt gewesen. „Andere Straßenseite“ machte mir der Mann mittels Handzeichen klar.








Auf der anderen Seite der Straße war ebenfalls eine Mauer und ein Torbogen. Dieser war allerdings viel kleiner nur für Fußgänger passierbar. Hinter dem Torbogen konnte ich bereits eine grüne Wiese und einen großen Stamm erkennen. Ich schaute mich um und blickte hoch. Erst jetzt erkannte ich, dass über die gesamte Breite der Mauer ein Baum, Pilzförmig, fast wie ein Deckel, seine Krone ausgebreitet hatte. Ich betrat den Torbogen und erblickte einen kreisförmig angelegten Platz, welcher von einer Mauer nach außen hin abgeschottet wurde. Der Einzige Ein- und Ausgang war dieser kleine Torbogen, in dem ich stand. Entlang der Mauer, in einer Art Veranda, waren duzende Buddhafiguren aufgestellt worden und am Giebel der Veranda waren in regelmäßigen Abständen unzählige große Glocken angebracht. Hier war ein wenig mehr los. Bereits vor dem Eingang hatte ich drei Frauen gesehen, die aus ihren Bauchläden Räucherstäbchen verkauften. Hier nun, im inneren des Hofes entdeckte ich sogar sechs Thais, die sich auf dem Innenhof verteilt hatten und vor dem riesigen Baum beteten. Dies war auch das erste Mal, dass ich Thais bei dem aktiven Beten zu und vor einem Baum erleben durfte!
Dieser Baum steht stand im Zentrum, war kein Nebenobjekt, sondern DIE magische, anbetungswürdige Institution. Direkt vor dem Baum war sogar extra eine Buddha Statue aufgebaut und ein spezieller Bereich gepflastert worden, um den Menschen einen Raum für ihre Gebete zu geben. An den Baum selbst kommt man aber gar nicht so einfach ran. Ähnlich wie am Tamarindbaum in Suphan Buri, haben die Menschen hier einen massiven Zaun aus rostigem Eisen um den Baum herumgezogen. Aber hier wurde er nicht durch aufgeheizte Steine eingeengt, sondern um ihn herum wurde ein grüner Schutzring aus frischem, lebendigem grünem Gras angelegt sowie einige Hinweistafeln auf Thai und Englisch, welche eindringlich darum baten, sich dem Baum bitte nur respektvoll, also barfuß zu nähern. Bemerkenswert fand ich, dass dieser Baum, ähnlich wie der alte Baum in Suphan Buri, aber im krassen Gegenteil zu den Bäumen in Ko Yao Noi und Krabi, alleine, also ohne schützende Umgebung anderer Bäume gewachsen war. Während die großen Bäume ihre schiere Größe scheinbar durch die Unterstützung und den Schutz der anderen Bäume und der felsigen Umgebung erreichen konnten und sogar andere Bäume in ihren inneren Kreis integrierten, waren diese alten Bäume scheinbar Einzelgänger. Oder lag es daran, dass sie einfach viel länger gelebt hatten, als die anderen Bäume? Dass sie diese einfach überdauert hatten und den „Nachwuchs“ der anderen Bäume nicht geduldet hatten, oder dieser womöglich sogar durch den Menschen entfernt wurde?
Der älteste Baum Thailands
Art: Ficus religiosa; Bodhi Tree
Größe: 30,00 m
Umfang: 25,00 m
Alter: > 2000 Jahre
Ort: Prachin Buri; Wat Ton Pho Sri Maha Bodhi Tempel
Der Baum selbst war groß und quick lebendig. Ähnlich wie der Legendäre Baum in Suphan Buri, waren auch hier einige Äste mit Stützen stabilisiert und gesichert worden. Aber diesmal waren es etwas filigranerere Stützen aus Holz und es waren bei weitem nicht so viele. Auch schien es dieser Baum bzw. seine Äste nicht so wirklich nötig zu haben. Eher schien die Stützen eine Sicherung bei starkem Wind zu sein. Anders als die der Big Tree in Ko Yao Noi und Krabi und sogar dem Legendenbaum in Suphan Buri, hatte dieser Bodhi Baum kaum einen richtigen, soliden Stamm. Er bestand vielmehr aus ganz vielen, verschiedenen Stämmen, die ineinander verwirbelt und verzweigt sind. Das Besondere bei diesem Bodhi Tree war zweifelsohne die Krone. Fast wie ein überdimensionaler Busch wuchs eine Vielzahl von dicken „Zweigen“ direkt aus dem Boden heraus und bilden ein filigranes Astfirmament. Die Stämme an sich waren nicht einfach nur glatt, wie beim Tetrameles Nudiflora in Ko Yao Noi oder so „Schuppig“ wie der Tamarindbaum aus der Legende. Die Stämme hier waren in sich verschlungen und in sich verdreht. Fast ein wenig wie Schlangen oder riesige Würmer, die sich ineinander verwoben haben. Dadurch entstand eine mystische, dynamische und durch die tatsächliche Bewegungslosigkeit eine zugleich ruhige Wirkung. Einzelne Stämme sahen zweifelsohne sehr alt und gebrechlich aus, andere hingegen wieder sehr jung, vital und gesund. Und in wieder anderen Stämmen hatten sich scheinbar junge und alte Parts ineinander sogar vermischt. Die Äste und Blätter, welche ein beeindruckendes, filigranes Dach bildeten, waren vital, jung und standen in vollem Grün. Sie waren so ein krasses Gegenteil zu den alten, knorrigen Strukturen im Herzen der Stammansammlung. Dieser Bodhibaum lebte die Polarität, lebte und vereinte scheinbare Gegensätze und brachte sie in Harmonie. Wie in diesen Klimazonen üblich, gab es auch hier keinen richtigen Herbst, in der der Baum alle seine Blätter abwerfen würde. Einzelne, alte und somit vertrocknete Blätter wurden durchgehend von dem Baum fallen gelassen, während ebenso permanent neue, frische Blätter gebildet wurden. Ich wage ein wenig zu bezweifeln, dass der ganze Baum die enorme Lebenszeit von über 2000 Jahren erlebt hat. Vermutlich ist es „nur“ der Kern und das alte Gehölz im inneren, dass so lange dem Tode widerstanden hat. Der Großteil des Baumes wird, so scheint es mir, immer wieder nachgewachsen sein und so seine Lebenszeit seit über 2000 Jahre immer weiter verlängert haben. Eine Existenz, fast länger als die Zeitrechnung des aktuellen Bewusstseinshorizontes der Menschheit.

„Stärke durch Erneuerung“ kommt mir wieder in den Sinn. Erneuerung, seit über 2000 Jahren. Als Überlebensbasis Veränderung und Anpassung während einer unfassbaren Zeit. Wie wir, als Mensch und Menschheit, allerdings viel viel langsamer. Er ist stetig gewachsen und hat sich ausgedehnt, schließlich sah er ja nicht immer so aus wie jetzt. Ein immerwährender Kreislauf von stetigem Wachstum und stetigem Tod – einzelner Zweige, Blätter und ganzer Stämme. Ein Ständiges auf und ab. Wie viele Phasen davon muss dieser Baum bereits miterlebt haben? Wie viel Zersetzung, Zerstörung, Tod, Leid, Schwäche? Wie viel Stärke muss er erlebt haben? Neues Wachstum, Entwicklung? Wie viel Veränderung um ihn herum? Aber der Baum selbst war immer hier. Immer einfach da. Hat immer weiter gemacht und sich immer wieder erneuert. In stoischer Genügsamkeit und passiver Präsents. Einfach immer weiter. Unbeeindruckt von der Flüchtigkeit des Lebens um ihn herum, ruhig und Standhaft, jeden Tag, bei jedem Wetter. Scheinbar regungslos und passiv, aber dennoch so präsent und mit irgendwie mächtiger, anmutiger und mystischer Wirkung.
Jetzt saß ich hier, an dem Baum und erlebte einen wichtigen Moment in meinem Leben. Aber für diesen Baum war diese Situation nicht mal ein Augenblick. Mein gesamtes Leben ist, im Vergleich zu dem Baum, dieser enormen Zeitspanne, ein einziger Wimpernschlag.