Die Burgundy Residence war ganz anders als die anderen Unterkünfte der vergangenen fünf Wochen. Sehr modern, schlicht und etwas minimalistisch gehalten, öffnete sich ein fast schon japanischer Innenhof vor mir. Im hinteren Bereich konnte ich einen riesigen Pool erkennen und dahinter, schien im ersten Stock das Fitnessstudio zu sein. Ich hatte mir ganz bewusst ein Hotel gesucht, welches auch einen guten, modernen Fitnessbereich im Angebot hatte, schließlich hatte ich seit knapp fünf Wochen kein ordentliches Workout mehr absolviert und war körperlich ein wenig unausgelastet.
Die Anfahrt war allerdings alles andere als schön gewesen. Dafür war sie aber interessant. Die Straße trug teilweise diese Bezeichnung zu Unrecht und so manches Mal wünschte ich mir einen ordentlichen, großen Four-Wheel-Drive, anstatt meines kleinen, 75 PS schwachen Nissan Almera. Die großen, unvermittelten Schlaglöcher hatten bereits dazu geführt, dass die linksseitige Verkleidung der Stoßstange sich im Bereich des Radkastens gelöst hatte und seit kurzem begannen die Stoßdämpfer, bei jeder kleinsten Unebenheit in unangenehm hoher Tonlage zu quietschen. Die Karre war fertig. Der Verkehr wurde immer Chaotischer, alle Verkehrsteilnehmer waren in gelb-grauen Staub eingehüllt und die Straßenränder waren gesäumt von allerlei kleinen und großen Geschäften in oft desolaten Gebäuden. Überall waren geschäftige Menschen, doch keinem schien es wirklich gut zu gehen. Alles in allem eine sehr endzeitliche, bedrückende Atmosphäre. Ich hatte mir das Hotel ausgesucht, da es in unmittelbarer Nähe zum letzten, ältesten Baum kein Hotel gab und ich noch nicht zurück ins hektische Bangkok wollte. Dieses Hotel war das einzige freie Hotel in der Nähe gewesen, welches einigermaßen guten Bewertungen hatte.
Die während der Anfahrt aufgekommenen Zweifel an meiner Entscheidung, verflogen schlagartig, als ich in die Empfangshalle und in den sauberen, ruhigen und modernen Innenhof der Burgundy Residence trat. Das Frühstück war von 05:00 bis 11:00 Uhr und inklusive. Gut trinkbaren Kaffee gab es kostenlos und den ganzen Tag. Die Zimmer waren ordentlich, sehr sauber und vernünftig eingerichtet und es gab sogar eine Küche. Residence. Langsam wurde mir klar, was das hier war. Diese „Insel der Ruhe“, der Zufluchtsort vom Chaos, Staub und Geschäftigkeit hatte sich auf asiatische, überwiegend japanische Geschäftsreisende spezialisiert, die meist direkt Wochenweise oder länger hier wohnten – und arbeiteten. Entsprechend wenig war hier tagsüber los, der Fitnessbereich war nur etwas am frühen Morgen und späten Abend frequentiert und den großzügigen Pool hatte ich sogar ganz für mich alleine. Scheinbar schwimmen Japaner nicht so gerne. Jetzt ergab die Frage der Rezeptionistin beim Einchecken, was ich denn hier arbeiten würde, auch Sinn. Kein Mensch kam hier auf die Idee, dass ich ein Tourist sein könnte. Jeder, der hier wohnte, tat dies nicht zur Erholung, sondern zum Arbeiten. Na, das passte ja auch irgendwie.
Wie bereits die letzten 10 Tage zuvor, wachte ich morgens gegen 07:30 Uhr von selbst auf. An einem ausgedehnten Verweilen im Bett hatte ich kein Interesse. Ich wollte voller Tatendrang den Tag sofort beginnen. Nach einer ausgedehnten Sporteinheit im Gym und dem großen Pool und einem anschließenden guten Frühstück, schnappte ich mir einen Kaffee und lies mich an den steinernen Tischen im Innenhof, unter ein paar Magnolien nieder. Mit Blick auf die minimalistische, moderne Kulisse und dem großen Pool setzte ich mich die nächsten Zwei Tage mit der Auswertung der vergangenen Erlebnissen und Planungen für die nächste Zeit auseinander. Die geschäftige Atmosphäre de Burgundy Residence passte hervorragend und wirkte förderlich.
Es war viel passiert. Thailands Bäume waren vielleicht nicht die ersten Objekte, die einem einfallen würden, wenn man nach Motiven der Stärke sucht und meine „Abenteuer“ waren nicht super extrem gewesen, jedoch hatte ich einiges erlebt und viele gute Motive gesammelt. Am meisten war allerdings in mir selber passiert. Ich hatte meine Vision berührt und in ihr, wenn auch teilweise etwas simuliert, wirklich gelebt. Dies war so alles neu für mich gewesen und musste mich erstmal selber darin finden. Doch es fühlte sich zu jeder Zeit gut an. Die Probleme, auf die ich gestoßen war, hatten mich nicht entmutigt. Sie hatten mich eher motiviert und irgendwie sogar erfreut und im Laufe der Zeit hatte ich sogar Lust auf sie bekommen, verliehen die doch der Unternehmung „Würze“ und Tiefgang. Ich fühlte mich mittlerweile nicht mehr wie ein Gast in einer fremden Welt, in die ich eigentlich gar nicht hingehörte und langsam mal „nach Hause“ müsste. Ich hätte zu dem Zeitpunkt das „Zuhause“ eigentlich auch sofort und hinter mir lassen können. Hätte, wäre da nicht noch die Sache mit dem Geld. Eine Rückkehr war alternativlos. Aber ich war dadurch keineswegs niedergeschlagen oder betrübt, sondern eher motiviert, noch viele weitere Expeditionen zu starten. Denn eines hatte mir diese spontane, erste Expedition gezeigt: Meine Vorstellung, meine „Vision“, damals 2019 vom Pool war keine unrealistische Spinnerei gewesen, die sich in der Vorstellung besser anfühlte als in der Wirklichkeit. Meine „Träumerei“ war nun realitätserprobt und hatte das Gütesigel „Sehr gut“ erhalten.
david
Ich stand vor dem riesigen Kühlschrank und ließ meinen Blick über die unzähligen Craftbiere schweifen. Endlich mal eine Lokation, mit einer vernünftigen Bierauswahl als nur die üblichen, charakterlosen Biermarken Chang, Singha und Leo. Aus den Lautsprechern plätscherte gemütliche Indi-Blues-Rock Musik und ein mir unbekannter, aber sehr angenehmer, leicht süßlich-würziger Räucherstäbchenduft verfeinerte die bereits schon sehr stylische, gemütliche Atmosphäre der Bar. Ich entschied mich für ein „Indian Pale Ale“ und setzte mich an einen schmalen, thekenartigen Tisch direkt vor dem Fenster. Frisch, fruchtig, sprudelnd rann kalte, das rot-goldene Bier meine Kehle hinunter. „Der erste Schluck ist immer der Beste“ dachte ich, als ich genüsslich mein Bierglas auf dem Bierdeckel absetzte, den Schaum von meiner Oberlippe wischte und dem geschäftigen, Bangkoker Vorort-Treiben auf der Straße folgte. Außer mir saß noch ein weiterer Gast, ein Thai und vermutlicher Freund des jungen Barkeepers, an der Bar. Ansonsten war auch diese Lokation, wie schon so oft erlebt, leider menschenleer. Es war alles erledigt. Die Stoßstange des quietschenden Mietwagens hatte ich provisorisch wieder fixieren und ihn so erfolgreich abgebenn können. Ich hatte mein letztes, sehr einfaches aber sauberes Hotel in Bangkok, in unmittelbarer Nähe zum Flughafen, bezogen und meine Sachen für den Rückflug fertig gepackt. Dies war also nun das Ende einer spannenden Episode, meiner ersten „Expedition“. Der Übergang vom Urlauber, dem konsumierenden Touristen zum Abenteurer mit einer Mission, einem erlebenden „Schatzjäger“, war vollzogen. Ich hatte Motive und Erfahrungen und Geschichten gesammelt. Nun gab es hier, in diesem Land, in dieser Stadt, nichts mehr für mich zu tun, außer auf den nächsten Morgen zu warten und den Rückflug anzutreten.

Ich nahm einen weiteren großen Schluck und beobachtete ein Taxi, welches direkt vor dem Lokal zum Halten gekommen war. Der Fahrgast, ein sportlicher, weißer Mann, mit sehr kurzem Haar und Mitte vierzig, hievte seinen großen, schwarzen Koffer aus dem Taxi, bezahlte den Taxifahrer und steuerte zielgerichtet auf die Bar zu. „Der Mann hatte offensichtlich auch eine Mission“, dachte ich grinsend. Er hatte ein aufgewecktes, freundliches Gesicht, welches nun allerdings in eine etwas ratlose Miene gewechselt war, während er auch vor der riesigen Auswahl an Craftbier stand. Die Situation war mir ja wohlbekannt. „David*„, sagte ich, „I can recommend this IPA here“ hielt die leere Flasche meines Bieres hoch. Der Mann drehte sich um und schaute mich verwirrt an. „Um…thanks. How do you know my name??“ fragte er freundlich, aber etwas skeptisch. Ich deutete auf seinen Koffer, an dem ein kleines weißes Schild befestigt war, auf dem in großen Buchstaben sein Name stand. David lachte auf. „yes, the sign“ entgegnete er, entschied sich tatsächlich für dasselbe IPA und nahm kurz hinter mir an einem kleinen Tisch Platz. Wir prosteten uns kurz zu, dann widmete sich David seinem Handy und begann lauthals einen Videocall. Ich hatte gerade meinen letzten Schluck genommen und wollte mir ein weiteres Bier bestellen, als David mir zuvor kam und freundlich aber bestimmt nach dem Barkeeper rief und ein weiteres IPA bestellte. „Der hat aber ordentlich Durst“, dachte ich während der Barkeeper etwas verlegen mitteilte, dass dies die letzten beiden Flaschen dieses Bieres gewesen waren.
Zielstrebig ging der Baarkeeper zu dem großen Kühlschrank und holte ein anderes IPA mit einem knallbunten Etikett heraus. „Maybe this?“ Wir bejaten euphorisch und ich war sehr gespannt auf das nächste Geschmackserlebnis. Das Letzte Bier war auf jeden Fall sehr gut und interessant gewesen. „Where do you come from?“ fragte der Barkeeper freundlich interessiert, während er das neue, rot-goldend schimmernde Bier, schäumend in eisgekühlte Biergläser fließen ließ. „Germany“ entgegnete ich, woraufhin sich beim Barkeeper ein breites, euphorisches Grinsen abzeichnete. „oh, I love Germany, great Beer“, sagte er weiter grinsend und wandte sich David zu, der gerade sein Gespräch beendet hatte. „And you?“ „Amerika, south!“, entgegnete David, erhob sein Glas und rief laut grinsend „PROST!“. Ich prostete zurück und fragte, ob ich mich zu ihm setzen dürfte.
Die nächste Stunde vergingen wie im Flug. David erzählte mir, dass er gerade auf so eine Art „Fronturlaub“ mit seiner Familie gewesen sei. Er arbeitete als Elektriker für die Streitkräfte der USA im Irak und hielt die Infrastruktur in den Unterkünften am Laufen. Ein Soldat sei er aber nicht. Es gab gutes Geld, viele gute und viele schreckliche Erlebnisse und wenig Zeit für seine Familie. Spontan hatten sie sich daher entschieden, das neue Jahr gemeinsam in Thailand zu verbringen und hatten sich hier dann vor Ort getroffen. Seine Frau und seine kleine Tochter hatte er soeben zum Flughafen gebracht und er selbst würde in wenigen Stunden ebenfalls seinen Flug antreten. „Ach, du übernachtest hier gar nicht?“ fragte ich? „Nein, ich hatte nur nach einer gut bewerteten Bar mit gutem Bier gesucht und keine Lust auf den Flughafen gehabt“ entgegnete er. Wir unterhielten uns ein wenig über die Zukunft, Träume, Abendteuer und Stärke und hatten direkt einen guten Draht zueinander, als David plötzlich aufsprang. „I have to go!“, sagte er und warf 2000 Baht, viel zu viel, auf den Tresen. „ Unfortunately, it could have been a loooong evening“ führte er weiter, bedauernd und etwas lallend aus. Ich stimmte entschieden zu. Wir verabschiedeten uns herzlich, David stürmte aus dem Lokal und ich wechselte, auch schon stark angetüddelt, an die Bar zum Barkeeper. David hatte innerhalb von 90 Minuten sieben starke Bier geradezu hinuntergestürzt und auch ich hatte wesentlich mehr getrunken, als ich es eigentlich vorgehabt hatte. „Was solls, es hat sich ja gelohnt. Alles für die Erlebnisse. Außerdem muss ich morgen nur noch physisch anwesend sein, den Rest erledigt das Flugzeug und die Crew“ dachte ich und bestellte mein letztes IPA, diesmal mit einem weißen Springer auf einem lila Sachbrett als Etikett.

„Die nächste „Motivjagt“ wird etwas anders, viel professioneller werden“, sagte ich zu mir. Eine richtige Planung, vernünftige Ausrüstung, Kameras, Mikro, ausgearbeitete, übersetzte und gedruckte Fragen sowie, wenn nötig, ein kundiger Übersetzter. Das nächste Mal wollte ich auch noch mehr darauf achten, die Situationen zwischen den Motiven wahrzunehmen, zu erleben und zu genießen. Weniger getrieben zu sein und mehr treiben zu lassen. Aber eines stand definitiv fest:
Die nächste Expedition wird wieder großartig werden!
*Der Name ist geändert worden