Ich atme einmal tief ein und langsam wieder aus, lasse das Buch kopfüber auf meine Brust kippen und lehne mich auf meiner Liege zurück. Mein Blick streift die „verwaschenen“, grauen Wolken und bleibt auf den Palmenblätter über mir hängen, welche sich sanft im 34° C warmen Wind bewegen.
„Was würden Sie tun, wenn Sie unendlich Zeit und Geld hätten“?
Diese Frage aus dem Buch ist mir irgendwie zu abstrakt. Ich verstehe schon den Sinn dahinter. Es ist eine Trickfrage, um zu ergründen, wie das eigene Leben für einen selbst sinnvoll und erfüllt gestaltet werden kann. Aber ich bekomme kein Gefühl für die Frage, sie ist einfach zu weit weg. „Unendlich Zeit und Geld – UNENDLICH“ Wie soll man sich das denn vorstellen?
90 Millionen Euro!
Ich habe eine Idee. Wie wäre es, wenn ich mir vorstelle, ich hätte den Eurojackpot geknackt und nun plötzlich bummelige 90 Millionen Euro auf meinem Konto? 90.000.000 € ist zwar nicht unendlich Geld, aber für mich schon eine ganze Menge – zumindest für mich. Was würde ich dann tun?
Ich versuche mir die Situation so konkret und greifbar wie möglich vorzustellen. Das Überprüfen der Zahlen, die ungläubige Begeisterung, wenn die Übereinstimmung festgestellt wurde. Den Moment, wenn die Summe auf meinem Konto eingegangen ist. Und dann? Vermutlich würde ich mich erstmal ausgelassen, in einem ekstatischem, fast schon highen Zustand freuen und entsprechend feiern. Essen im besten Restaurant, Freunde einladen, ohne Limit shoppen, vielleicht auch eine fette Party feiern oder einfach direkt spontan frei nehmen und erstmal einen ausgedehnten Luxusurlaub im warmen genießen. Dort, wo mich keiner kennt und ich den neuen Luxus voll ausleben kann. Kündigen würde ich aber wohl erstmal noch nicht. Nicht in den ersten Tagen. Ich würde vermutlich erstmal einfach raus, Urlaub machen. Und dann? Der Zustand der der Ekstase wird nicht ewig anhalten. Vermutlich wird er sogar ziemlich kurz sein. Nach dem „Emotionsorgasmus“ müsste ich vermutlich erstmal klarkommen, mich orientieren. Das Glitzer würde sich langsam auf dem Boden absetzen und das normale Leben, ein Alltag, würde wieder eintreten. Irgendwann würde ich in vermutlich an einem Pool in einem Luxusresort liegen und mich fragen, was ich denn nun wirklich für den Rest meines Lebens mit den 89,97 Millionen Euro machen möchte? Denn ganz ehrlich: Den ganzen Tag, für den Rest meines Lebens, an irgendwelchen Pools liegen und mich bedienen zu lassen, das wäre mir zu langweilig. Das bin nicht ich. Ich glaube auch, mit „unendlich“ Geld, oder auch „nur“ 90 Millionen €, also in einem Zustand, in dem ich mir gefühlt fast alles kaufen kann, mir fast alles ermöglicht wird und alle Menschen um mich herum scheiß (oberflächlich) freundlich sind, in diesem Zustand wäre Langeweile und Emotionslosigkeit auf Dauer wirklich ein großes Problem! Ich würde also etwas tun. Ok. Aber was?

„Klack“. Devot und wie immer übertrieben freundlich stellt die Bedienung der Poolbar einen eiskalten Gin Tonic auf den Tisch neben mir ab. Es ist heute so warm, dass das kalte Glas sofort von außen beschlägt und zügig dicke Wassertropfen von der Glaswand auf den Tisch ablaufen.
Ich wackele mit meinen Füßen, nippe an meinem Gin Tonic und lasse den Blick über dem azurblauen Pool eines Mittelklasseresorts auf der thailändischen Insel Koh Chang wandern. Hinter dem Pool glitzerte das Meer und am Horizont erheben sich mehrere, dunkelgrüne Felsinseln aus dem Golf von Thailand. Dann passiert es. Langsam fühle ich es undplötzlich kann ich mich in die Situation hineinversetzten. Ich fühle mich mehr und mehr wirklich unendlich reich – und ohne Plan für meine Zukunft. Ein komisches Gefühl. Irgendwie – verloren.
„Was mache ich denn nun? Was mache ich mit dem Rest meines Lebens?
Soll ich, einfach um der Langeweile zu entfliehen, meiner durchaus interessanten Tätigkeit als Personenschützer weiter nachgehen? Oder soll ich für immer umherreisen, mit der Gefahr, niemals ein wirkliches Zuhause zu haben? Oder kaufe ich mir eine Villa, schlurfe den ganzen Tag im seidenen Bademantel herum und werde aufgrund fehlender „echter“ Emotionen von Drogen und Alkohol abhängig?
„Kunst“ schießt es mir plötzlich, glasklar und deutlich in den Sinn. Ich sehe mich schon in meinem inneren Auge, wie ich in einem hellen, großen Atelier vor meinen Bildern stehe und voll in meinen Arbeiten versunken bin. „Kunst?! Etwas Besseres fällt dir nicht ein?“ „Es ist ALLES möglich, jede erdenkliche Situation und du willst dich einfach weiter deinem Hobby widmen?“ frage ich mich kritisch und versuche mir die Situation so konkret und kritisch wie möglich vorzustellen: Aufstehen, Frühstücken, ins Atelier gehen und an meinen Motiven arbeiten. Ich sehe mich nun auch, wie ich reise, Motive entdecke, fotografisch festhalte und daraus Kunst erschaffe. Ich sehe mich, wie ich Ausstellungen auf der ganzen Welt habe und ich meine Bilder in großen und kleinen Galerien und Museen präsentiere. „Und wenn es nicht funktioniert? Wenn du keinen Zuspruch, keine Anerkennung erhältst? Wenn keine Galerie dich ausstellen möchte? Kein Sammler oder keine Sammlerin deine Bilder erwerben möchte?“ Dann mache ich es trotzdem, denn ich bin frei. Frei von finanziellem oder zeitlichem Druck, denn ich habe ja die 89,97 Millionen Euro.
Ich schließe die Augen und fühle, wie sich ein tiefes, inneres Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitet und irgendwie mein Herz „aufgeht“. Nein, es fällt mir tatsächlich nichts „Besseres“ ein!
Das war 2019. Vier Jahre später schaue ich wieder auf den Golf von Thailand. Es ist 2023 und diesmal sitze ich in einem Schnellboot in mitten von Party- und Konsumtouristen, aufgereiht wie Hühner auf einer Stange, habe meine Kopfhörer auf und beobachtete die Menschen um mich herum. Das Schnellboot fährt von Krabi über Koh Phi Phi nach Phuket. Viele Mitreisende scheinen verkatert zu sein und versuchten einfach klar zu kommen. Ein Pärchen hatte sich vermutlich gerade einen Joint reingezogen und ist nun grinsend und gelähmt auf dem Höhepunkt des Rausches. Ein anderes Pärchen scheint sich eifrig um Hotels und Unternehmungen zu kümmern. Allen gemein ist, dass sie sich auf dem Weg zum nächsten Touri-Konsum befinden.

Ich war, bis vor wenigen Stunden, nicht anders gewesen. Die letzten vier Wochen hatte ich mit meiner Freundin Franzi und meinem Kumpel Eike eine Rundreise über die Inseln Thailands gemacht. Wir hatten relaxt, gutes Essen und manchmal zu viel Alkohol konsumiert – einfach Urlaub gemacht. Doch in dieser Situation, hier im Boot, wurde mir auf einmal klar, dass es jetzt anders war. Das ICH jetzt anders war. Ich war nicht auf dem Weg ins nächste Resort auf der nächsten Trauminsel mit weißen Traumstränden und perfektionierter Tourismusindustrie. Mein diffuses Ziel war es nicht mehr, zu „gammeln“, zu feiern und einfach ziellos zu entspannen. Ich hatte nun eine Mission, ein richtiges Ziel. Ich hatte etwas zu tun.
Die letzten vier Jahre war viel passiert. Ich hatte mich immer intensiver der Kunst zugewendet, war fokussierter, ernsthafter und vor allem professioneller in meinen Absichten geworden. Meine Technik und Persönlichkeit hatten sich stark entwickelt und ein Thema wurde frei gelegt. Stärke.
Das erforschen von Stärke wurde fortan eine treibende Kraft in meinem Leben und breitete sich besonders auf meine künstlerischen Arbeiten aus. Die Kunst ist für mich ein Werkzeug, ein Gefährt, mit dem ich mich dem abstrakten komplex von Stärke und Schwäche konkret und greifbarer nähern kann. 2023 war ich aber erst am Anfang einer großartigen Reise. Einnahmen hatte ich durch meine kreative Arbeit noch nicht generiert da die 90 Millionen Euro nicht exisiterten, generierte ich meinen Lebensunterhalt weiterhin ausschließlich aus meiner Arbeit als Personenschützer. Ich hatte auch noch keine große Ausstellung gehabt und für meine Motive nutzte ich als Grundlage überwiegend Fotos anderer Fotografen, anstatt meiner eigenen. Das war soweit vollkommen in Ordnung gewesen, doch das musste sich jetzt dringend ändern.
Ich wollte schon lange alle meine Motive selber aufnehmen. Ich wollte eben diese Welt bereisen und dadurch das Leben erleben – Nicht mehr als Tourist, sondern fortan auf einer Mission: Die Mannigfaltigkeit der Stärke zu erforschen und in meinen Werken zu verarbeiten. Mir war klar, dass dieser Weg nicht unbedingt der effektivste und einfachste Weg war, sondern sehr beschwerlich und aufwendig sein konnte. Aber dieser Weg war eben auch voller Abenteuer, Entdeckungen, Geschichten und einfach authentisch, echt. Ein nächster großer Schritt stand also bevor, doch ich kam einfach nicht aus dem „Quark“. Bis zu einem Tag, vier Jahre später, wieder an der Küstenlinie Thailands. Bis zu dem Moment, in dem ich mich abermals durch niedergeschriebene Worte inspirieren und erschüttern ließ:
„Starte dort, wo du stehst. Benutze das, was du hast. Tu das, was du kannst.“
frei nach Robert Ashe jr. | Theodore Roosevelt
Ich hatte jetzt, hier in diesem Moment, im Urlaub in Thailand, Zeit. Ich hatte genügend Mittel und nun jede Menge Motivation. Ich konnte die nächsten zehn Tage damit verbringen, weiter an Pools rum zu liegen, Bratreis zu essen und Chang Bier zu trinken – ODER ich konnte einfach starten. Hier und jetzt. Objekte der Stärke ermitteln, zu diesen reisen, Geschichten und Abenteuer erleben und Motive der Stärke mit nach Hause, in mein Atelier nehmen. „Ja!“ schrie es in meinem Inneren. „Ja, mach es einfach“. Der „Schmerz“ war nun zu groß geworden, die Situation war gekippt.
Doch was könnte es sein? Welche Objekte waren zwischen Postkarten-Traumstränden und den Touristenmassen der Luxusresorts oder Hippie-Buden authentisch stark genug, dass sie mich inspirierten?
Bäume! Es gibt wirklich beeindruckende, sehr große, sehr alte Bäume in Thailand. Fast schon majestätisch. Die Thais selbst haben eine ganz besondere Beziehung zu der Natur und insbesondere die Bäume sind für sie ein Ort der Kraft, Geister und Spiritualität. Die überall verteilten kleinen „Tempel“ zeugen von einem Glauben an Geister, welcher in der thailändischen Kultur, neben dem Buddhismus, tief verwurzelt ist. Insbesondere den großen Bäumen wird eine besonders große Kraft zugeschrieben, sodass diese oft im Zentrum von spirituellen Zeremonien stehen. Die vielen kleinen Opfergaben an diesen Bäumen sowie das Umwickeln der Riesen mit bunten Stoffen verdeutlichen, dass dieser Glaube noch lebendig ist. Auf meinen Wanderungen in den Wäldern durch dieses feucht-warme Land war ich selber schon oft begeistert vor diesen riesigen Bäumen mit den enormen oberirdischen Wurzeln stehen geblieben. Sie waren oft so groß und alt, dass die Menschen daneben ganz klein und regelrecht schwach wirkten. Diese Bäume faszinierten mich sehr.

Voller Tatendrang ließ ich meinen Blick vom Inneren des Schnellbootes, über die mittlerweile eingeschlafenen Kiffer und das immer noch emsig planende Pärchen, hinaus auf den Horizont des Meeres wandern. Unzählige, riesige „Felsinseln“ zogen an uns vorbei und die drückende feuchte Wärme trieb emsig den Schweiß auf meine Stirn. Ich atmete tief ein und noch langsamer wieder aus, während sich langsam wieder dieses tiefe, innere Lächeln über mein Gesicht legte.
Meine Mission: Die Suche nach dem größten, breitesten und ältesten Baum Thailands
